Hochspannung im Stahl: Wie die E-Revolution die Drahtindustrie neu erfindet

Die Transformation der Automobilindustrie hin zur Elektromobilität stellt einen fundamentalen Wandel dar, der sich direkt auf die Stahlindustrie auswirkt. Neue Anforderungen an Materialien, veränderte Produktionsvolumina und innovative Anwendungsgebiete prägen diesen Strukturwandel. 

Auswirkungen auf die deutsche Stahlindustrie 

Die deutsche Stahlindustrie befindet sich in einer herausfordernden Phase. Die Rohstahlproduktion schließt zwar mit einem Plus von rund 5 % im Vergleich zum Vorjahr ab, die erzeugte Rohstahlmenge bleibt allerdings zum dritten Mal in Folge unter der 40-Millionen-Tonnen-Grenze und damit auf Rezessionsniveau. Diese Entwicklung spiegelt direkt auch die strukturellen Veränderungen in der Automobilindustrie wider. 

Die E-Mobilität verändert die Nachfrage nach Stahlprodukten grundlegend. Während konventionelle Fahrzeuge primär auf Massenstahl für Karosserieteile angewiesen sind, benötigen Elektrofahrzeuge spezialisierte Stahlgüten und neue Produktkategorien. Besonders betroffen sind hochfeste Stähle (AHSS - Advanced High Strength Steel) für Batteriegehäuse, die gleichzeitig Crashsicherheit und Gewichtsoptimierung gewährleisten müssen. 

Die Verschiebungen bei der Stahl-Nachfrage zeigen sich auch in den Konjunkturindikatoren: Die Auftragseingänge in der Stahlindustrie sanken im 3. Quartal 2024 um 9,4 % gegenüber dem Vorquartal. Diese Entwicklung resultiert teilweise aus dem Übergang zu neuen Produktkategorien als auch veränderten Abnahmemengen in der Automobilindustrie. 

Stahlprodukte in der modernen Automobilindustrie 

Die Automobilindustrie bleibt dennoch trotz der E-Mobilitäts-Transformation der größte Abnehmer der Stahlindustrie. Moderne Fahrzeuge, ob elektrisch oder konventionell angetrieben, benötigen weiterhin eine wachsende Zahl spezialisierter Stahlprodukte: 

Karosseriestähle und Strukturkomponenten: Hochfeste und ultrahochfeste Stähle (AHSS, UHSS) bilden das Rückgrat moderner Fahrzeugstrukturen. Sie ermöglichen dünnere Wandstärken bei gleichzeitig verbesserter Crashsicherheit und reduziertem Gewicht. 

Batteriegehäuse und Strukturteile: Elektrofahrzeuge erfordern robuste Schutzstrukturen für die Batteriesysteme. Hier kommen spezielle Stähle zum Einsatz, die hohe Festigkeit mit optimaler Schweißbarkeit kombinieren. 

Fahrwerkskomponenten: Federn, Dämpferteile und Stabilisatoren aus hochfesten Federstählen müssen den veränderten Gewichtsverteilungen und Belastungsmustern von E-Fahrzeugen gerecht werden. 

Antriebskomponenten: Auch bei Elektrofahrzeugen sind Präzisionsstähle für Getriebeteile, Lager und Motorkomponenten unverzichtbar. 

Drahtprodukte in der E-Mobilität: Neue Dimensionen der Anwendung 

Drahtprodukte erleben durch die Elektromobilität gleichermaßen eine Renaissance als auch eine Neuausrichtung. Die traditionellen Anwendungsgebiete erweitern sich um innovative Einsatzbereiche, die spezifische Materialanforderungen stellen. 

Reifenverstärkung und Cord-Technologie 

So stellt die E-Mobilität beispielsweise ganz neue Anforderungen an Reifentechnologien. Elektrofahrzeuge weisen aufgrund ihres höheren Gewichts und des sofortigen Drehmoments veränderte Belastungsprofile auf. Dies erfordert optimierte Stahlcord-Lösungen für die Reifenverstärkung. 

Unternehmen wie ArcelorMittal und Bekaert haben ihre WireSolutions-Produktlinien gezielt auf diese Anforderungen ausgerichtet. Moderne Stahlcorde für E-Fahrzeug-Reifen müssen höhere Zugfestigkeiten bei gleichzeitig verbesserter Ermüdungsbeständigkeit aufweisen. Die Bead-Wire-Technologie für Reifenwülste wurde ebenfalls weiterentwickelt, um den erhöhten mechanischen Belastungen standzuhalten. 

Continentale und andere Reifenhersteller arbeiten an spezialisierten E-Fahrzeug-Reifen, die optimierte Rollwiderstände für höhere Reichweiten bieten. Diese Entwicklungen erfordern präzise abgestimmte Drahtprodukte mit definierten Oberflächeneigenschaften und Festigkeitsprofilen. 

Batteriegehäuse und Fastener-Technologie 

Die Batteriesysteme von Elektrofahrzeugen erfordern hochpräzise Verbindungselemente und Befestigungssysteme. Hier kommen spezialisierte Kaltumformdrähte und Fastener-Lösungen zum Einsatz, die höchste Zuverlässigkeit unter extremen Temperaturbedingungen gewährleisten müssen. 

Unternehmen wie Bulten haben ihre Produktentwicklung auf die spezifischen Anforderungen der E-Mobilität ausgerichtet. Batteriebefestigungen müssen nicht nur mechanische Belastungen aufnehmen, sondern auch elektrische Isolation gewährleisten und thermische Ausdehnungen kompensieren. 

Die voestalpine Wire Austria entwickelt EPD (Environmental Product Declaration)-zertifizierte Kaltstauchdrähte, die den Nachhaltigkeitsanforderungen der Automobilindustrie entsprechen. Diese Produkte zeichnen sich durch reduzierte CO2-Emissionen in der Herstellung und optimierte Recyclingfähigkeit aus. 

Fahrwerks- und Federungssysteme 

Elektrofahrzeuge stellen durch ihre veränderte Gewichtsverteilung neue Anforderungen an Federungssysteme. Mubea als führender Hersteller von Schraubenfedern hat spezielle Coil-Spring-Systeme für E-Fahrzeuge entwickelt, die den erhöhten Belastungen durch das Batteriegewicht Rechnung tragen. 

Die Optimierung der Federdrahteigenschaften erfolgt mittels fortschrittlicher Simulationstechniken. Ansys-Simulationen ermöglichen die präzise Abstimmung von Federcharakteristiken auf die spezifischen Anforderungen verschiedener E-Fahrzeug-Plattformen. Dabei stehen neben der mechanischen Belastbarkeit auch Aspekte wie NVH (Noise, Vibration, Harshness) im Fokus. 

Walzdraht und maßgeschneiderte Lösungen 

Die voestalpine Wire Technology positioniert sich als Komplettanbieter für Mobility Solutions und bietet spezialisierte Walzdrahtgüten für E-Fahrzeug-Anwendungen. Besondere Bedeutung erlangen dabei Federstahldrähte im Sinne der EN 10089-Norm, die für hochbeanspruchte Federelemente in E-Fahrzeugen eingesetzt werden. 

ArcelorMittal erweitert sein WireSolutions-Portfolio kontinuierlich um E-Mobilitäts-spezifische Produkte. Die Entwicklung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit Automobilherstellern und berücksichtigt die gesamte Wertschöpfungskette von der Rohstahlerzeugung bis zur finalen Anwendung. 

Schweiß- und Verbindungstechnik 

Die Montage von E-Fahrzeug-Komponenten erfordert spezialisierte Schweißdrähte und Fügetechnologien. voestalpine Böhler Welding entwickelt Solid Wires und Cored Wires speziell für die Anforderungen der Elektromobilität. Dabei stehen Aspekte wie die Schweißung unterschiedlicher Materialien, die Integration von Leichtbauwerkstoffen und die Gewährleistung elektrischer Isolation im Vordergrund. 

Batteriegehäuse aus Stahl, wie sie das Fraunhofer IPK entwickelt, erfordern hochpräzise Schweißtechnologien. Die verwendeten Schweißdrähte müssen definierte chemische Zusammensetzungen aufweisen, um die erforderlichen mechanischen und elektrischen Eigenschaften der Schweißverbindungen zu gewährleisten. 

Neue Normen und Qualitätsstandards 

Die E-Mobilität etabliert überdies neue Industrienormen und Qualitätsstandards, die direkte Auswirkungen auf die Drahtproduktion haben. Neben den etablierten Automobilnormen entstehen E-Mobilitäts-spezifische Anforderungen: 

Elektrische Eigenschaften: Drahtprodukte in E-Fahrzeugen müssen definierte elektrische Leitfähigkeiten oder Isolationseigenschaften aufweisen, abhängig von ihrer Anwendung. 

Thermische Beständigkeit: Komponenten in der Nähe von Batteriesystemen müssen erweiterte Temperaturbereiche abdecken und thermische Wechselbelastungen verkraften. 

Nachhaltigkeitszertifizierungen: EPD-Zertifizierungen und CO2-Fußabdrücke werden zu entscheidenden Qualitätskriterien bei der Lieferantenauswahl. 

Rückverfolgbarkeit: Umfassende Dokumentation der Materialherkunft und -eigenschaften wird zur Voraussetzung für die Integration in E-Fahrzeug-Produktionslinien. 

Chancen und Herausforderungen des Wandels 

Vorteile der E-Mobilitäts-Transformation: 

Produktdifferenzierung: Spezialisierte Drahtprodukte für E-Mobilitäts-Anwendungen ermöglichen höhere Margen und stärkere Kundenbindung. 

Innovationsführerschaft: Unternehmen, die frühzeitig in E-Mobilitäts-Technologien investieren, können sich als Marktführer in neuen Segmenten etablieren. 

Nachhaltigkeitsimage: Die Unterstützung der E-Mobilitäts-Transformation stärkt das Nachhaltigkeitsprofil der Stahlhersteller allgemein. 

Globale Märkte: E-Mobilität ist ein weltweiter Trend, der neue Exportmöglichkeiten eröffnet. 

Strom, Stahl und Strategie: Die Transformation der deutschen Drahtindustrie 

Die Elektromobilität katalysiert einen fundamentalen Wandel in der Stahlindustrie und eröffnet neue Perspektiven für Drahtprodukte. Während traditionelle Anwendungen durch innovative Lösungen ersetzt oder ergänzt werden, entstehen völlig neue Marktsegmente mit spezifischen Anforderungsprofilen.

Die erfolgreiche Navigation durch diese Transformation erfordert von den Unternehmen strategische Weitsicht, technische Innovation und operative Exzellenz. Unternehmen, die frühzeitig in E-Mobilitäts-spezifische Kompetenzen investieren und ihre Produktportfolios entsprechend ausrichten, werden von den langfristigen Wachstumsperspektiven profitieren. 

Die deutsche Stahlindustrie steht vor der Aufgabe, ihre traditionelle Stärke in der Präzisionsfertigung mit den Innovationsanforderungen der E-Mobilität zu verbinden. Dies gelingt durch intensive Kooperationen mit Automobilherstellern, konsequente Nachhaltigkeitsausrichtung und die kontinuierliche Entwicklung zukunftsfähiger Drahtlösungen für die Mobilität von morgen. 

Mehr zum Thema Draht in der Elektro-Automotive-Industrie erfahren Sie auf der nächsten wire & Tube, die vom 13. bis 17. April 2026 in Düsseldorf stattfindet. Aktuelle Branchen- und Produktinformationen liefert Ihnen das Internetportal unter www.wire.de.