Nach 18 Jahren Verhandlungen könnte es im August 2012 endlich soweit sein: Als letzte der großen Volkswirtschaften der Welt wird Russland voraussichtlich Mitglied der Welthandelsorganisation WTO. Darauf einigten sich die WTO-Mitgliedstaaten und Russland Mitte Dezember 2011 in Genf.
Das Beitrittsprotokoll ist unterzeichnet, zustimmen muss jetzt nur noch das russische Parlament, das dafür laut WTO-Regularien genau 220 Tage, nämlich bis zum 22. Juli 2012, Zeit hat. 30 Tage nach der Ratifizierung würde Russland automatisch Vollmitglied der WTO.
Zum Beitritt ein T-Shirt: Der russische Chef-Unterhändler Maxim Medwedkow freut sich über den erfolgreichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen, links WTO-Generalsekretär Pascal Lamy (Photo: WTO/Studio Casagrande)
Auf Russland kommen damit umfangreiche Verpflichtungen zum Abbau von Handelsschranken zu. Vom Tag des Beitritts an muss es das umfassende WTO-Regelwerk umsetzen und den heimischen Markt für ausländische Waren und Dienstleistungen öffnen. Die durchschnittliche Obergrenze für Importzölle auf alle Produkte wird von derzeit 10 auf 7,8% sinken, beispielsweise für Automobile von 15,5 auf 12%, von elektrischen Maschinen von 8,4 auf 6,2%. Auch die staatlichen Industrie- und Agrarsubventionen müssen gestrichen bzw. erheblich gekürzt werden. Eine weitere gute Nachricht für westliche Unternehmen ist, dass Russland mit der WTO auch dem sog. „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum“ (TRIPS) beitritt, was ausländischen Unternehmen eine rechtliche Handhabe gibt, um gegen Produktpiraterie und Raubkopien vorzugehen. Mit dem Beitritt zur WTO erkennt Russland nämlich auch deren Streitschlichtungsmechanismus an. Damit dürfen Russland, aber eben auch die übrigen Mitgliedstaaten gegen Regelverstöße klagen, wovon sich Experten größere Rechtssicherheit für Investoren und damit zusätzliche Investitionsanreize versprechen.
Besonders dem russischen Automobilmarkt, dem Markt für chemische Produkte und für Maschinen werden langfristig gute Wachstumsaussichten bescheinigt, weshalb europäische und vor allem deutsche Unternehmen zu den Gewinnern des russischen WTO-Beitritts gehören dürften. Die EU ist Russlands wichtigster Handelspartner. Exporten aus EU-Ländern im Wert von gut 85 Milliarden Euro standen 2010 Importe aus Russland im Wert von knapp 160 Milliarden Euro gegenüber. Auch bei den Auslandsinvestitionen liegt die EU vorn: Die EU-Kommission schätzt, dass bis zu 75% der ausländischen Direktinvestitionen in Russland aus EU-Mitgliedstaaten kommen.
Sinnbild des modernen Russlands: das neue Moskauer Geschäftsviertel „Moskau City“ (Photo: Bradmoscu)
Trotz der zahlreichen Verpflichtungen dürfte auch Russland selbst erheblich vom WTO-Beitritt profitieren. In einem Bericht von 2008 geht David Tarr, ehemaliger Chef-Volkswirt der Weltbank, von einem zusätzlichen Wachstum des russischen BIP von insgesamt 4,3% durch den WTO-Beitritt aus. Die größten Wachstumsimpulse erwartet er von der Öffnung des Dienstleistungssektors für ausländische Direktinvestitionen: Russland hat sich verpflichtet, die Investitionsschranken für ausländische Telekommunikations- und Transportunternehmen sowie für Banken und Versicherungen zu senken oder ganz zu eliminieren, teilweise allerdings erst nach Ablauf von Übergangsfristen von bis zu neun Jahren. Dank der größeren Investitionssicherheit könnte auch der stetige Kapitalabfluss von umgerechnet 85 Milliarden US-Dollar allein im Jahr 2011 endlich gestoppt werden, schreibt der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft in einem Dossier zum russischen WTO-Beitritt. Eher gering schätzt Tarr dagegen die Wachstumseffekte durch den verbesserten Marktzugang für russische Unternehmen und die Beseitigung von Subventionen in anderen Ländern ein. Da Russland mit nahezu allen Handelspartnern bereits Meistbegünstigungsklauseln vereinbart hat, wird es hier durch den WTO-Beitritt kaum Veränderungen geben.
Während exportorientierte russische Unternehmen, etwa aus der Eisen- und der NE-Metallindustrie oder der Chemischen Industrie, von einer stärkeren Integration Russlands in die Weltwirtschaft profitieren dürften, geraten die Nahrungsmittelindustrie oder auch die russischen Maschinen- und Autobauer in Zukunft erheblich unter Druck. Sie müssen nicht nur die Kürzung oder Streichung von Subventionen und protektionistischen Maßnahmen verkraften, sondern sich auch vermehrt gegen ausländische Mitbewerber behaupten. Für einige Branchen, darunter die Automobil-, die Flugzeug- und die Nahrungsmittelindustrie, sind Russland deshalb Übergangsfristen von bis zu acht Jahren eingeräumt worden, bevor es das WTO-Regelwerk vollständig anwenden muss. Beispielsweise sind Vorzugszölle und Zollbefreiungen für einheimische Autobauer noch bis 2018 erlaubt. Während in einigen Branchen die Angst vor Arbeitslosigkeit umgeht, wird, so glauben die Optimisten unter den Fachleuten, der stärkere Wettbewerb die russischen Unternehmen längerfristig zur Modernisierung zwingen und damit der Wirtschaft auf dem Weltmarkt insgesamt zu mehr Konkurrenzfähigkeit verhelfen.
Das vielleicht größte Wachstumspotential liegt jedoch woanders. Im Dezember 2011 kritisierte die OECD zum wiederholten Male die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als nachhaltiges Handicap für ein höheres Wirtschaftswachstum. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und die Deutsch-Russische Außenhandelskammer in ihrer jüngsten Umfrage unter ca. 6000 deutschen Unternehmen in Russland. Die staatliche Bürokratie und Korruption werden auch hier als größte Probleme genannt. Im „Doing Business“-Index der Weltbank von 2011 liegt Russland nur auf dem 123. Platz, sieben Plätze schlechter als im Vorjahr.
Ministerpräsident Wladimir Putin hat im Februar 2012 nun ein Maßnahmenpaket angekündigt, mit dem er Russland zu einem der 20 attraktivsten Investitionsstandorte weltweit machen will. Vor allem die bürokratischen Prozesse sollen beschleunigt werden. Experten bleiben skeptisch: Ankündigungen dieser Art hört man in Russland nicht zum ersten Mal.
Florian Wassenberg
Link: www.wto.org
Sie wollen mehr aktuelle Informationen?
Melden Sie sich hier für unsere kostenlosen Newsletter an:
wire Newsletter
Tube Newsletter
Weitere Themen: