Die Salzgitter AG will schon bis 2033 die Stahlherstellung komplett dekarbonisieren. Anfang Februar hat das Unternehmen dazu in einer Sonder-Pressekonferenz seine neue Strategie vorgestellt. Im Interview mit stahl. erklärt Gunnar Groebler, Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG, wie Salzgitter die Ziele erreichen möchte.
stahl.: Bisher hieß es, dass Sie bis 2045 auf eine nahezu CO2-freie Stahlproduktion umgestellt haben werden und ab 2027 beginnen, klimaneutralen Stahl herzustellen. Wie sieht diesbezüglich jetzt Ihr aktualisierter Zeitplan aus?
Gunnar Groebler: Wir sind bei der Umsetzung noch ambitionierter und haben mit der neuen Konzernstrategie „Salzgitter AG 2030“ den Zeitplan für SALCOS – Salzgitter Low CO2-Steelmaking
gestrafft. Die komplette Transformation des integrierten Hüttenwerks soll schon 2033 abgeschlossen sein. Das ist mehr als zehn Jahre früher als bisher geplant. Derzeit bereiten wir die endgültige Investitionsentscheidung für die erste Ausbaustufe von SALCOS vor. Ein positives Votum im Aufsichtsrat und eine notwendige öffentliche Förderung vorausgesetzt, könnten wir bereits ab Ende 2025 mit der CO2-armen Stahlproduktion beginnen; anfangs überwiegend erdgasbasiert und später zunehmend mit bis zu 100 Prozent grünem Wasserstoff. Schon 2026 werden wir dann über eine Million Tonnen CO2-armen Stahl erzeugen. Insgesamt erzielen wir mit der kompletten Transformation eine CO2-Verminderung von über 95 Prozent gegenüber 2018 und vermeiden rund ein Prozent der heutigen
deutschen Emissionen.
Welche Strategien verfolgen Sie zur kurzfristigen Dekarbonisierung?
Wir betreiben die Dekarbonisierung der Stahlerzeugungsprozesse bereits jetzt mit verschiedenen Projekten und setzen auch auf ein Netzwerk mit unseren Partnern. So erzeugen wir seit dem vergangenen Jahr grünen Wasserstoff mittels Windenergie für bestehende Fertigungsprozesse mit dem in Deutschland einzigartigen Sektorkopplungsprojekt „Windwasserstoff Salzgitter - WindH2“. Damit sammeln die Partner Know-how sowie Erfahrungen mit der Vor-Ort-Produktion von Windstrom und Wasserstoff und deren Integration in die komplexen Abläufe. Außerdem betreiben wir die zurzeit größte Hochtemperatur-Wasserstoff-Elektrolyse. Die Salzgitter AG verfolgt ebenso ein umfangreiches Energieeinsparprogramm, dessen zahlreiche Einzelmaßnahmen auf die CO2-Reduzierung einzahlt.
Zurzeit bauen wir eine μDRAL-Anlage mit der wir technische Expertise zur Herstellung von direkt reduziertem Eisen (DRI) aufbauen. Diese Direktreduktionsanlage im Demonstrationsmaßstab ist die erste flexibel mit Erdgas und Wasserstoff betreibbare DRI-Anlage. Die Produktion beginnt in den nächsten Monaten. Zunächst wird das direkt reduzierte Eisen im Hochofenprozess - zur Einsparung von Einblaskohle - sowie im Elektrolichtbogenofen unseres Werkes Peine eingesetzt. Mit der μDRAL-Anlage werden wir die nötigen Erfahrungen sammeln, um in wenigen Jahren Anlagen in weitaus größerem Maßstab zu betreiben.
Mit der Produktion von grünem Stahl verändern sich auch die wirtschaftlichen Faktoren. Wie beurteilen Sie aktuell die Nachfrage nach dem klimaneutral(er)en Werkstoff und die damit verbundenen veränderten Anforderungen?
Unsere Industriegesellschaft und damit die Wirtschaft befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel; einer der Fixpunkte hierbei ist die Dekarbonisierung. Das Wachstum wird deshalb in nachhaltig orientierten Märkten höher und stabiler sein als in traditionellen. Mit einem zügigen Umbau des Konzerns mit dem Fokus auf Circularity, dem Prinzip von CO2-armen und ressourcenschonenden geschlossenen Energie- und Materialkreisläufen, agieren wir entsprechend. Ziel ist es, kundenorientierte Lösungen marktreif zu etablieren, um in diesen nachhaltigen und wachsenden Marktsegmenten weiterhin erfolgreich zu sein und unsere Position auszubauen. Dies ist ein wesentlicher Baustein der Strategie „Salzgitter AG 2030“. Unsere Kunden, insbesondere in den europäischen Märkten, stellen ihre Materialbeschaffung zunehmend auf „grüne Ressourcen“ um und betrachten dabei auch alle Emissionen aus den Wertschöpfungsketten. Ein positives Beispiel ist die Belieferung des BMW Presswerks in Leipzig mit Stahlbändern der Salzgitter Flachstahl. Die Lkw nehmen auf dem Rückweg den anfallenden Presswerkschrott zurück mit nach Salzgitter. Es entsteht ein Closed Loop. Dies ist doppelt effizient. Zum einen fahren die Lkw voll ausgelastet und damit CO2-minimal. Zum anderen wird mit dem Recycling des Materials der Stoffkreislauf geschlossen.
Besonders stolz sind wir darauf, der erste europäische Hersteller mit einer Konformitätsaussage für „grüne Stahlprodukte“ zu sein. Damit sind wir bereits heute in der Lage, grüne Flachstahlprodukte mit einem um 2/3 verminderten CO2-Fußabdruck zu liefern. Diese werden auf der schrottbasierten Elektrostahlroute hergestellt. Es gibt somit schon heute reale Vertriebsstrukturen, die dann mengenmäßig erweitert werden können. Kunden sind namhafte Automobilhersteller wie u.a. die Mercedes-Benz AG, deren Zulieferer und Haushaltsgerätehersteller wie Miele und BSH. Mit Ørsted, einem grünen Energiekonzern und Weltmarktführer bei Planung, Bau und Betrieb von Offshore-Windparks, arbeiten wir künftig als strategische Partner zusammen. In einem Memorandum of Understanding (Absichtserklärung) sind die Vorhaben festgelegt: Gemeinsam streben die Partner an, geschlossene Wertschöpfungsketten für ihre gemeinsamen Aktivitäten zu etablieren. Diese sollen neben der Lieferung von Offshore-Windstrom, der Nutzung von nachhaltig produziertem Wasserstoff auch die Produktion von CO2-armem Stahl und dessen Einsatz in den Komponenten für die Offshore-Windparks von Ørsted beinhalten. Außerdem ist vorgesehen, Schrott aus ausgemusterten Windrädern in den Stahlproduktionsprozess zurückzuführen. Auch mit BMW haben wir jüngst ein ähnliches Circularity-Kooperationsmodell abgeschlossen.
Wie wettbewerbsfähig sehen Sie Ihre Dekarbonisierungsstrategien im Vergleich zu führenden Handelspartnern wie USA und China?
Wir setzen auf eine zweigleisige Strategie: Einerseits mit der Etablierung grüner Leitmärkte, die bereit sind, die anfänglich sicher vorhandenen Mehrkosten in der Erzeugung des grünen Stahls mitzutragen. Andererseits mit der Integration der echten CO2-Kosten in die Produktpreise bei gleichzeitigem wirksamen Carbon Leakage Schutz. Das hat die EU-Kommission mit Fit for 55 aufgegriffen, aber es besteht dort noch Nachbesserungsbedarf. Das neue Instrument CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) muss seine Wirksamkeit erst unter Beweis stellen. Bis dahin ist es entscheidend, für neue Technologien eine Zuteilung von Zertifikaten im europäischen Emissionshandelssystem EU-ETS auf Höhe der Hochofenroute zu bekommen, ohne dass diese insgesamt drastisch abgeschmolzen wird. Sprich: Wir müssen die Möglichkeit haben, das Geld für die anstehende Transformation mit den Bestandsanlagen zu verdienen. Wenn diese beiden Dinge gelingen, sehen wir der Wettbewerbsfähigkeit gelassen entgegen, aber eben nur „wenn“! Daher setzen wir darauf, die notwendige Unterstützung zu erhalten und beginnen als Vorreiter jetzt unmittelbar mit dem Umbau.
Dekarbonisierung bedeutet auch hausinterne Umstrukturierungen. Wie holen Sie Ihre Mitarbeiter diesbezüglich inhaltlich ab?
Wir haben es geschafft, Zuversicht in die Transformation zu vermitteln. Wir bespielen dabei die ganze Palette der Kommunikationswege, vom persönlichen Gespräch über die Mitarbeiterzeitung bis hin zu digitalen Formaten. Dazu kommen Planungsrunden und weitere Besprechungen, in denen die Mitarbeiter sich einbringen. Insbesondere mit den Mitarbeitern der Metallurgie unseres Hüttenwerkes werden wir gemeinsam erarbeiten, wie Aufgaben verteilt und Qualifizierungen vermittelt werden. Das Schöne ist doch, wir haben alle ein gemeinsames Ziel: Wir wollen auch in 20 Jahren noch Stahl in Salzgitter produzieren.
Auch Sie forschen in Richtung Wasserstoff. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat jüngst 900 Mio. Euro für H2Global freigegeben, um auch Wertschöpfungs- und Lieferketten zu optimieren. Wie schätzen Sie deren Bedeutung für Ihr Klimavorhaben ein?
Es ist essenziell, dass Wertschöpfungsketten von Beginn an in Deutschland und Europa erhalten bleiben und in Zukunftsfeldern ausgebaut werden. Die Förderung einer leistungsfähigen Wasserstoffinfrastruktur finden wir richtig und unterstützen dies, weil wir einer der großen Abnehmer grünen Wasserstoffs sein werden. Deshalb haben wir uns auch an der Stiftung von H2Global beteiligt, denn es wird mittelfristig nicht ohne Importe von Wasserstoff gehen. Zudem gehört es zur Ehrlichkeit dazu, dass es ohne Erdgas als Brücke in die neue Zeit nicht gehen wird, denn die Verfügbarkeit von Wasserstoff wird 2025 noch nicht in dem Maße vorhanden sein. Es lohnt sich trotzdem, jetzt mit der Transformation zu beginnen, denn selbst rein mit Erdgas betriebene Anlagen emittieren schon 60 Prozent weniger CO2 als die klassische Hochofenroute – den Erfolg können wir kurzfristig realisieren.