stahl.: Wie lange wird dieser Transformations-Prozess – Dekarbonisierung in Kombination mit neuen Konzepten für EVs und Autonomes Fahren dauern?
van Schaik: Wir haben mit dem Roll-out des MaaS-Projekts begonnen, das den Beginn der Transformation darstellt. Dabei werden wir das Projekt und seine Ergebnisse sukzessive verschiedenen europäischen OEMs präsentieren und dieses Konzept im Grunde Zug um Zug auf den Weg bringen. Wir wissen jetzt zunächst erst einmal nur, dass die Art und Weise, wie man heute Stahl herstellt, nicht in den Fahrzeugen von morgen angewendet werden kann. Von daher ist das ein längerer Entwicklungsprozess, der uns – so denke ich – in den nächsten beiden Jahrzehnten beschäftigen wird.
stahl.: Das ist schwer vorstellbar angesichts der stürmischen Entwicklung der Elektromobilität in China. Ist vom weltgrößten Stahlerzeuger, der sicher schon bald auch bei grünem Stahl Vorreiter sein will, nicht ein ganz anders Tempo zu erwarten?
van Schaik: Wir reden hier wie gesagt von einem weltumspannenden Projekt. Auch China Steel ist in dieses Projekt involviert. Japanische Stahllieferanten arbeiten mit US-amerikanischen, europäischen und chinesischen Stahllieferanten zusammen. Es sind alle in das WorldAutoSteel Project eingebunden. Ich denke, was die Chinesen angeht, so sind sie uns Europäern derzeit wirklich voraus, wenn es um die Elektronik geht. Andererseits müssen neue Startups in Sachen Qualität und Kundenakzeptanz erst einmal generell zu den traditionellen OEMs aufschließen. Aber es gibt Beispiele, die zeigen, dass ein Startup im Verlauf der Zeit durchaus die gleichen Standards erfüllen und auf dem Automobilmarkt erfolgreich sein kann. Tesla ist dafür das perfekte Beispiel. Es dauerte bei Tesla 15, fast 20 Jahre, bevor sie ein Fahrzeug hatten, das wirklich akzeptabel für die Verbraucher war, so dass diese sagten: Okay, das ist ein hochwertiges Fahrzeug.
stahl.: Vor rund 20 Jahren war auch erstmals die Nachricht zu lesen, dass Tata ebenfalls ein eigenes Auto bauen wird.
van Schaik: Ja, Tata Motors baut in Indien seit etwa 20 Jahren Autos für den indischen Markt. Aber es ist im Moment ein sehr lokaler Markt. Das ist natürlich der andere Vorteil, den Indien hat. Irgendwann wird Indien auch als globaler Produzent auftreten, aber gegenwärtig gibt es einen derart großen Kapitalmarkt in Indien und die Nachfrage ist so groß, warum sollte man unter diesen Gegebenheiten das Exportgeschäft forcieren?
stahl.: Also heißt es jetzt für Tata Motors erst einmal: First we take Mumbai and Delhi, then we take New York, Tokio and Shanghai?
van Schaik: Bis das passiert, muss sicher noch viel Wasser den Rhein runterfließen. Wie Sie wissen, ist Jaguar/Land Rover zwar Teil von Tata Motors – und in der Tat baut Tata Motors auch Autos, die weltweit verkauft werden. Auch elektrische. Ein E-Land Rover kommt zum Beispiel nächstes Jahr heraus. Es gibt bereits seit längerem den Jaguar I-PACE, der das erste Elektrofahrzeug im Sortiment war. Aber auch Tata Motors selbst baut in Indien eigene EVs. Es wird der nächste große Markt für Elektro-Autos sein. Aber noch viel größer ist das Marktvolumen im Hinblick auf die Elektrifizierung von Rollern und Dreirädern.
stahl.: So schließt sich der Kreis: Das erste Auto von Carl Benz war ein Dreirad.
van Schaik: In Vietnam gibt es mehr Roller als Menschen. Zugegeben, noch nicht wirklich viele elektrische. Aber die Entwicklung nimmt auch hier bereits Fahrt auf. Alle müssen das jetzt tun. Ich habe von meinen Kollegen bei Tata Steel India gehört, dass die Elektrifizierung der Roller in Indien bereits massiv im Gange ist. Es passiert wirklich. Nicht zuletzt deswegen ist Tata Motors inzwischen auch einer der Hauptakteure im EV-Geschäft.
stahl.: Alles schön und gut. Aber der Strom für die indischen Elektrofahrzeuge wird leider fast ausschließlich noch fossil produziert, überwiegend sogar noch sehr CO2-intensiv mit Kohle.
van Schaik: Ja, leider hat Indien noch einen viel zu hohen Kohleanteil. Indien hat zwar inzwischen auch seine CO2-Ziele, die sind aber natürlich wegen der wirtschaftlichen Aufholjagd Indiens weit weniger ambitioniert als die in Europa.
stahl.: Das dürfte dann wohl auch in gleicher Weise in Bezug auf die Produktion von grünem Stahl in Indien gelten?
van Schaik: Wie gesagt, die Umstellung auf grünen Stahl wird nicht über Nacht passieren. Alle Stahlproduzenten weltweit müssen partnerschaftlich zusammenarbeiten. Wir müssen gemeinschaftlich herausfinden, welche Konsequenzen es hat, die Stahlsorten, die wir bis jetzt produziert haben, wegen des Dekarbonisierungsdrucks zu ändern. Und wir müssen sicherstellen, dass diese dann immer noch die hohen Anforderungen erfüllen.
stahl.: Warum ist es so herausfordernd, grünen Stahl für die Automobilindustrie zu produzieren?
van Schaik: Nehmen wir zum Beispiel Nickel. Nickel ist zumeist sehr CO2-intensiv in der Gewinnung und typischerweise unverzichtbar, wenn es um rostfreien Stahl geht. Außerdem ist Nickel relativ teuer, weil es ein knapper werdender Rohstoff ist. Wenn jetzt also der Nickelanteil in rostfreiem Stahl aus Kosten- und Dekarbonisierungsgründen zurückgefahren werden soll, die Eigenschaften des Stahls aber gleich bleiben sollen, dann wird das definitiv eine Herausforderung für die Metallurgen und Materialforscher sein.
stahl.: Bei Outokumpu heißt es, man produziere bereits rostfreien Stahl mit nahezu CO2-freiem Nickel.
van Schaik: Mag sein. Aber nicht jeder kann das tun. Nickel hat außerdem ja noch eine zweite gewichtige Rolle, nämlich die bei der Batterieproduktion. Der Stahl, der für die Batterieherstellung genutzt wird, ist nickelbeschichtet. Grund ist die Korrosionsumgebung in der Batterie. Aber ist diese wirklich erforderlich? Die Nickelbeschichtung stammt ja von den Alkalibatterien, die wir vor 30 Jahren schon so hergestellt haben. Brauchen wir diese Technologie für Li-Ion-Batterien in der Automobilindustrie noch? Kann man mit einem anderen Beschichtungstyp für die Batteriestähle möglicherweise auch ohne Nickel auskommen und so den CO2-Fußabdruck deutlich verringern? Das sind, wie bereits erwähnt, all diese Diskussionen, die wir immer wieder intensiv und partnerschaftlich mit unseren Kunden führen. Nur so kommen wir zu brauchbaren nachhaltigen Lösungen. Das ist das zentrale Learning der letzten Jahre: Keiner von uns kann es allein schaffen, wir können es nur gemeinsam und partnerschaftlich schaffen.
stahl.: Das heißt, Sie kooperieren nicht nur mit allen großen Automobilproduzenten, sondern auch mit Ihren Wettbewerbern?
van Schaik: Nun, die Zahl der in Frage kommenden global agierenden Stahlhersteller ist ohnehin sehr überschaubar. Die weltweite Herausforderung, grünen Stahl auf den Weg zu bringen, basiert im MaaS-Projekt von WorldAutoSteel auf der Grundlage einer vorwettbewerblichen Zusammenarbeit. Sie liefern beispielsweise Materialdaten, aber WordAutoSteel sagt den anderen Herstellern nicht, ob es sich um den Stahltyp X, Y oder Z handelt. Sie erfahren auch nicht, von wem der Stahl ist. Aber alle zusammen kommen wir auf diese Weise anonymisiert der Wahrheit Stück für Stück näher, ob Stahltypen, die wir in einem Elektrolichtbogenofen produzieren, das Gleiche leisten wie ein Hochofenstahl? Und wenn wir zu dem Schluss kommen, dass sie es nicht vollständig tun, dann müssen wir Antworten auf die Frage finden: Wie können wir einige der Risiken, die die OEMs dadurch bekommen, mildern? Denn offen gesprochen: Wir müssen alle ein bisschen nachgeben.
stahl.: Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
van Schaik: Die meisten von uns mögen zum Beispiel ihre Autos glänzend im Showroom stehen sehen. Aber warum? Manche kaufen auch bewusst ein mattfarbenes Auto, weil sie sich von der Masse abheben wollen. Vielleicht wird es künftig ziemlich herausfordernd sein, ein glänzendes Blechkleid für ein Auto mit einem Stahl aus dem Elektrolichtbogenofen zu machen. Ich weiß es noch nicht. Wir haben es noch nicht gemacht. Gesetzt den Fall, dass es wirklich nicht gut funktionieren sollte, dann kommt schnell die Frage auf „Ist das noch ein Muss für ein Produkt, das in Zukunft auf einem Automobilmarkt verkauft wird, der zunehmend grünen Anforderungen genügen muss?“ Vielleicht muss der Autohersteller etwas nachgeben, vielleicht der Verbraucher. Denn am Ende wollen wir ja alle nachhaltig sein. Und wo müssen wir alle nachgeben, um diese Nachhaltigkeit für uns zu erreichen?
stahl.: Wie erhalten Sie Informationen über die Bedürfnisse der Kunden Ihrer Kunden?
van Schaik: Das herauszufinden, ist in erster Linie Sache der OEMs. Ich war vor einiger Zeit in einem Webinar, bei dem es um den Aluminiumeinsatz ging. Ein Vertreter eines OEM sagte, wir müssen jetzt verstärkt den Dialog mit unseren Kunden suchen und ihm klarmachen: Man kann kein grünes Fahrzeug haben, das all das tut, was es jetzt tut. Es wird Kompromisse geben müssen. Denn die Herausforderung mit Aluminium ist zum Beispiel, dass es energetisch sehr aufwändig ist, es in interessanten Formen herzustellen. Ergo kann dieser OEM künftig vielleicht seinen Kunden auch z. B. kastenförmige Formen verkaufen und sie sozusagen daran gewöhnen, dass sie diese auch interessant finden.
stahl.: Hört sich dennoch ein wenig nach einem Abgesang auf den Aluminium-Leichtbau und einem klaren Punktsieg für grünen Stahl in der Dekarbonisierungs-Rallye an.
van Schaik: Es wird im Leichtbau immer Argumente geben, die für den Einsatz von Aluminium sprechen. Im Allgemeinen sind wir aber der Meinung, dass wir auch sehr gute gewichtseffektive Lösungen mit Stahl haben. All unsere Projekte mit WorldAutoSteel zeigen, dass es immer noch eine Option gibt, gewichtseffektive Lösungen aus Stahl zu finden. Aber dann kommt auch immer wieder die Frage auf, wie viel leichter muss die Lösung mit Stahl zu einem gegebenen Kostenpunkt sein? By the way, Aluminium ist vom Preis abgesehen wegen seiner Energieintensität in der Herstellung aus Nachhaltigkeitssicht nicht gerade das Mittel der Wahl. Je nachdem, ob Sie viel Recycling-Material verwenden, oder ob Sie mit Kohle produzieren, hat das einen gewissen Beigeschmack. Will sagen: Wir bekommen ein völlig anderes Spiel mit neuen Spielregeln.
stahl.: In Deutschland sind seit zwei Jahren die drastisch gestiegenen Energiekosten der Gamechanger. Bei Ihnen In den Niederlanden auch?
van Schaik: Die Energiekosten in Europa sind, z. B. im Vergleich zu den USA, deutlich zu hoch. Es ist also ein europäisches Problem. Das Einzige, was passiert ist: Die meisten Länder in Europa gewähren immer noch einen Energierabatt für Großverbraucher in der Industrie. In den Niederlanden wurde er zum 1. Januar 2024 abgeschafft. Wir sind im intensiven Dialog mit der neuen Regierung, um diesen Prozess umzukehren. Ich bezweifle, dass die Niederlande diese Position wird beibehalten können. Denn auf lange Sicht bedeutet dies den umfassenden Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Nachbarländern.
stahl.: Herr van Schaik:, wir bedanken uns für das Gespräch.