Die Zerstörung des Azovstal-Werks in Mariupol steht symbolisch für die Auswirkungen, die der Ukraine-Krieg auf die Stahlindustrie des Landes hat. Mauro Longobardo ist CEO von ArcelorMittal Ukraine in Krywyj Rih. Sein Werk wurde zu Beginn des Krieges aus Sicherheitsgründen stillgelegt, hat aber vor kurzem die Produktion wieder aufgenommen. Im Interview mit stahl. spricht er über die Schwierigkeiten der Stahlproduktion in Kriegszeiten.
stahl.: Herr Longobardo, was ist der aktuelle Status quo bei ArcelorMittal Krywyj Rih?
Mauro Longobardo: Mit einem Wort: schwierig. Wir arbeiten derzeit mit nur einem Hochofen, was eine Produktion von 100.000 t pro Monat bedeutet. Im Vergleich zu den 500-550.000 t im Monat, die wir vorher hatten, bedeutet dies eine Auslastung von 20-25 %. Aufgrund verschiedener Probleme mit der Lieferkette und den Produktionskosten konnten wir unseren Mitarbeitern nur 66 % ihres ursprünglichen Gehaltes zahlen. Wir befinden uns in einer Notlage, die wir wahrscheinlich noch bis zum Ende des Jahres aufrechterhalten können, wenn sich die Kriegssituation nicht bessert. Das ist eine Schande, wenn man bedenkt, dass wir früher eines der wettbewerbsfähigsten Werke der ArcelorMittal-Gruppe waren.
Haben die Kampfhandlungen unmittelbare Auswirkungen auf Ihren Geschäftsbetrieb?
Die Frontlinie ist 50 km von der Anlage entfernt. Deshalb gibt es manchmal Raketeneinschläge in der Nähe der Stadt. Vor kurzem detonierte eine Rakete nur einen Kilometer von unserer Anlage entfernt. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, da dies am Wochenende geschah. Die Lage in Kryvyi Rih ist in einem gewissen Sinne erträglich, aber angespannt.
Wie hat sich Ihre betriebswirtschaftliche Lage in den letzten fünf Monaten entwickelt?
Normalerweise haben wir eine Kapazität von rund 7 Millionen Tonnen Roheisen und 6 Millionen Tonnen Stahl. Außerdem arbeiteten rund 26.000 Beschäftigte vor Ort. Die Anlage ist also relativ groß und wichtig für die umliegende Region. Als der Krieg begann, wurde alles kompliziert. Unser Hauptproblem war die Logistik. Normalerweise haben unsere Langerzeugnisse einen hohen Anteil am ukrainischen Markt; etwa 1,2 von 6 Millionen Tonnen pro Jahr. Den Rest exportieren wir über Häfen. Wir haben einen eigenen Hafen in Mykolajiw, der eine Kapazität von bis zu 3 Mio. t fasst. Den Rest verschiffen wir über den Hafen von Odessa.
Aber jetzt sind die Häfen geschlossen.
Genau, das ist das Problem. Unser Lösungsansatz war, die Logistik auf Schienenverkehr umstellen. Dies zu entwickeln, hat vier Monate gedauert. Es gab viele Herausforderungen zu bewältigen. Zum Beispiel sind die Spurweiten der Schienen in Europa und in der Ukraine unterschiedlich, so dass immer zwischen den Bahnsystemen umgeladen werden muss, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Jetzt schicken wir unsere Produkte zu Häfen in Polen und den baltischen Ländern, von wo aus sie an unsere Kunden verschifft werden. Aber diese Häfen sind für unsere Art von Produkten und die von uns gelieferten Mengen nicht ausgerüstet. Selbst bei einer guten Marktlage könnte das gesamte System nur rund 50 % unserer Kapazität aufnehmen.
Inwiefern erhöhen diese Hürden Ihre Logistikkosten?
Wir haben dramatische Mehrkosten von 100 $ pro Tonne. Damit liegen die Transportkosten über dem Marktpreis des Produkts. Aus diesem Grund haben wir den zweiten Hochofen nicht in Betrieb genommen – er kann nicht wirtschaftlich arbeiten. Wenn ich mehr produziere, erhöhen sich die Verluste, und die Löhne können nicht mehr gezahlt werden. Die Wiederinbetriebnahme eines Hochofens ist nur dann eine praktikable Option, wenn sicher ist, dass man ihn über einen längeren Zeitraum gewinnbringend nutzen kann. Der Grund ist, dass bei jeder Wiederinbetriebnahme die feuerfesten Materialien beschädigt werden. Und Ersatzteile sind derzeit nicht zu bekommen. Wenn sich die Lage jedoch verbessert und die Häfen geöffnet werden, könnten unsere Verluste schnell gegen Null gehen, da wir die zusätzlichen Logistikkosten sofort einsparen würden. Das würde ausreichen, um den zweiten Hochofen wieder hochzufahren und die maximale Kapazität zu erreichen.
Ist Ihre Rohstofflieferkette denn noch intakt?
Das Gute ist, dass wir unsere eigene Eisenerzversorgung haben. Das macht uns in normalen Zeiten sehr wettbewerbsfähig. Wir fördern jedes Jahr 26 Millionen Tonnen und verarbeiten sie zu Eisenerzkonzentrat. 80 % dieses Eisenerzkonzentrats verwenden wir für die Stahlproduktion. Unser Hauptproblem ist die Kohleversorgung. Früher verbrauchten wir 300.000 t Kohle pro Monat. Sie wurde aus mehreren Ländern geliefert, darunter Australien und die USA. Jetzt sind diese Quellen versiegt. Wir sind auf Kohle angewiesen, die über polnische Häfen geliefert wird. Und auf Kohle aus der Ukraine. Da MetInvest, das andere große Stahlunternehmen der Ukraine, seine Werke in Mariupol und Iljitsch verloren hat, können wir die Kohle nutzen, die dort verbraucht worden wäre. Aber all das gibt uns nicht die Kapazität, die wir brauchen.
Ist Ihre Produktion auch durch mangelhafte Energieversorgung gefährdet?
Ich würde sagen, dass wir keine Angst vor der Energieversorgung haben müssen. Lassen Sie uns zunächst über den Strom sprechen. Der Gesamtverbrauch der Ukraine liegt normalerweise bei 24 GW/h. Inzwischen ist er jedoch auf 9-10 GW/h gesunken. Der Grund dafür ist, dass mehrere große Fabriken im Osten des Landes keinen Strom mehr verbrauchen. Im Grunde ist der größte Teil der ukrainischen Industrie zum Stillstand gekommen. Der verbliebende Energiebedarf kann problemlos von den Kraftwerken gedeckt werden, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Der Preis ist demzufolge durchaus in Ordnung. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, lag er bei etwa 1,20 €/MWh. Das ist im Vergleich zu den 2,50 € in einigen europäischen Ländern ein guter Wert. Außerdem brauchen wir nicht mehr so viel Strom wie früher. Unser Werk verbrauchte etwa 500 MW/h, aber mit nur einem Hochofen ist es viel weniger.
Und wie sieht es mit der Gasversorgung aus?
Glücklicherweise gibt es einen großen unterirdischen Gasvorrat. Die Ukraine exportiert seit Sowjetzeiten Gas, und ich sehe nicht, dass die Gas-Frage zu einem so großen Problem wie in den europäischen Ländern werden könnte, die auf russisches Gas angewiesen sind. In meinen Augen stellt die Verfügbarkeit von Energieressourcen kein Risiko für die derzeitige Industrieproduktion der Ukraine dar – wenn man von Kohle absieht. Das Hauptproblem ist die Logistik: die Kapazität ist vorhanden, aber die Logistik macht das Geschäft unrentabel. Zugegeben, langfristig könnte das auch bei den Energieressourcen der Fall sein, obwohl wir bisher ein wettbewerbsfähiges Preisniveau haben.
Hat der ArcelorMittal-Mutterkonzern Sie seit Beginn des Krieges unterstützt?
Ja, wir haben riesige Unterstützung erhalten. Zu Beginn des Konflikts habe ich fast täglich mit unserem CEO telefoniert. Es war sofort Konsens, dass man uns, so gut es mit finanziellen Mitteln eben ging, helfen würde. Zuerst haben wir uns um die Familien der Mitarbeiter gekümmert. Wir haben etwa 1.000 Menschen aus Kryvyi Rih umgesiedelt, hauptsächlich Frauen und Kinder. Die ersten Personen sind nach Polen gezogen. Natürlich war das anfangs ein großer verwaltungstechnischer Aufwand, weil die Grenzen völlig überfüllt waren. Normalerweise werden in den grenznahen Bahnhöfen bis zu 2000 Personen pro Tag abgefertigt, in dieser Zeit waren es mehr als 85.000. Als wir dann sahen, dass die Westukraine relativ sicher blieb, brachten wir weitere Personen fortan dorthin.
Angenommen, der Krieg würde enden – welche Entwicklung erwarten Sie danach?
Stahl ist ein begehrter Werkstoff für Rekonstruktionsarbeiten… Für uns wird sich wahrscheinlich nichts ändern. Es stimmt, dass wir hauptsächlich Stahl für das Baugewerbe produzieren, aber der Markt in der Ukraine war im Vergleich zu unserer Kapazität immer recht begrenzt. Gerade einmal 1,2 Millionen Tonnen unserer Kapazität waren für die Ukraine bestimmt. Wenn der Markt explodiert, könnten es bis zu 2 oder 2,5 Millionen sein, aber für uns wird sich dadurch nichts ändern. Statt den Stahl zu exportieren, verkaufen wir ihn dann auf dem lokalen Markt. Wir werden aber die gleiche Gesamtmenge produzieren, noch bevor das Wiederaufbauprogramm der Ukraine beginnt. Vielleicht wird das Geschäft insgesamt etwas rentabler sein, denn wenn wir vor Ort verkaufen, sinken die Logistikkosten.
Sehen Sie denn für den Rest der Ukraine die Möglichkeit eines ‚Nachkriegsbooms‘?
Nein, aber die Diskussion über den Wiederaufbau ist noch nicht abgeschlossen. Die Frage ist: Was soll wiederaufgebaut werden In der derzeitigen Situation gibt es besetzte Gebiete wie Charkiw oder Mariupol, in denen die Zerstörung viel größer ist beispielsweise in Kiew. Es bleibt abzuwarten, welche Teile der Ukraine noch für den Wiederaufbau zur Verfügung stehen werden. Eine andere Frage ist: Wer wird den Wiederaufbau durchführen? Die ukrainische Bauwirtschaft war schon vor dem Krieg übersättigt, weil es an Personal für die Durchführung von Projekten mangelte.
Ist die demografische Entwicklung ein Problem?
Viele Menschen haben die Ukraine verlassen. Die Menschen, die das Land verlassen, sind meist qualifiziert und können im Ausland leicht einen Job finden. Und wie ich schon sagte, liegt die Frontlinie ganz in der Nähe von Kryvyi Rih. Wenn das so bleibt, könnten noch mehr Menschen die Region verlassen.
Aber Sie haben vor zu bleiben?
Ja, natürlich. Ich und mein Team werden bleiben. Einige Mitarbeiter, die in die Westukraine gezogen sind, sind bereits zurückgekehrt. Menschen können sich an alles anpassen. Inzwischen habe ich mich völlig an den Luftangriffsalarm, die militärischen Kontrollpunkte und sogar an Raketenangriffe gewöhnt. Und in einem Jahr könnte alles viel besser sein. Das Land hat ein großes Potenzial. Ich hoffe nur, dass die Menschen, die ebenfalls Potenzial besitzen und das Land verlassen haben, wieder zurückkommen. Denn wenn sie das nicht tun, wird das ein großes Problem sein.
Herr Longobardo, vielen Dank für das Gespräch.