stahl.: Handelt es sich denn nicht insbesondere bei den Pulverbettverfahren, wie LPBF, um sehr teure Verfahren?
Prof. Krupp: Das ist richtig, deswegen muss man sehen, dass man auch wirklich einen wirtschaftlichen Nutzen durch diese Technik herauszieht. Den sehe ich vor allem dort, wo eine hohe Produktindividualisierung gefordert ist, also bei Ersatzteilen, oder bei komplexen Bauteilen, die anders nicht realisierbar sind. Problematisch bei Werkzeugstählen ist allerdings die Wärmebehandlung. Grundsätzlich sind für die additive Fertigung Werkstoffe geeignet, die gut schweißbar sind. Das ist bei Werkzeugstählen nicht unbedingt der Fall. Das heißt also, Heißrisse und Poren spielen eine große Rolle. Wenn ein Werkzeug zigtausend- oder gar millionenfach belastet wird, und dann infolge Ermüdung vorzeitig ausfällt, weil Poren und Defekte auftreten, dann ist das ein Problem.
stahl.: Wie kann das Problem behoben werden?
Prof. Krupp: Wir fokussieren uns darauf, Werkstoffe zu entwickeln, die mit ihren Eigenschaften in besonderer Weise für die additive Fertigung geeignet sind. Auf der anderen Seite wollen wir auch die Prozesskette verstehen: Wie wirkt sich die chemische Zusammensetzung des Laser-Power-Bed-Fusion Prozesses auf die Mikrostruktur und die Eigenschaften des Materials aus? Hier im Haus gibt es dazu eine große Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema ICME (Integrated Computational Materials Engineering) befasst, um die computergestützte Werkstoff- und Prozessentwicklung auf die additive Fertigung zu übertragen und solche Hochleistungs-Werkstoffe dann realisierbar zu machen.
stahl.: Welche Werkstoff-Anforderung ist aus Ihrer Sicht aktuell der stärkste Innovationstreiber?
Prof. Krupp: Sehr gefragt sind mehr denn je hochfeste Stähle für alle Bereiche. In der Automobilindustrie ist Presshärten ein zentrales Thema. An der RWTH Aachen gab es lange den Sonderforschungsbereich „Steel – ab Initio“, wo viel Grundlagenwissen zu Mittel- und Hoch-Manganstählen erarbeitet wurde. Im Zuge des nun laufenden Exzellenzclusters „Internet and Production“ der RWTH arbeiten wir jetzt daran, Mittel-Mangan-Stähle für Presshärten-Anwendungen zu optimieren. Da sprechen wir dann über Festigkeiten von über 1.600 MPa bei gleichzeitig hoher Duktilität. Darüber hinaus muss aber auch die Korrosionsbeständigkeit gewährleistet werden. Und das heißt: Es muss ein Korrosionsschutz aufgebracht werden. Das Verzinken dieser Stähle mit dem Presshärte-Prozess zu harmonisieren, ist eine große Herausforderung.
stahl.: Für welche Anwendungsfälle werden diese Stähle benötigt?
Prof. Krupp: Insbesondere für den PKW-Bereich, wo eine hohe Sicherheit gefordert ist, z. B. die Fahrgastzelle, die auf keinen Fall bei einem Crash einknicken darf. Batteriekästen sind ebenfalls ein interessanter Anwendungsfall. Die dürfen im Falle eines Unfalls nicht kollabieren, da die Batterie-Zellen feuergefährlich sind.
stahl.: Davon abgesehen bleibt der zentrale Innovationstreiber in der Metallurgie aber derzeit zweifellos die Nachhaltigkeit.
Prof. Krupp: Ja, die Entwicklung von Stählen mit optimalem CO2-Fußabdruck ist das Thema der Stunde. Viele Stähle erfordern eine mehrfache Wärmebehandlung, müssen also mehrfach aufgeheizt werden. Wir arbeiten verstärkt an Stählen, die man direkt aus der Schmiedehitze abkühlt und die ihre hohe Festigkeit erhalten, indem sie durch Luftabkühlen Martensit bilden und bereits kleine Karbide ausscheiden. Dies ist eine Stahlentwicklung, die wir schon seit vielen Jahren unter dem Namen LHD (lufthärtend duktil) verfolgen.
stahl.: Sie sprachen anfangs von Stahl als unendlichem Werkstoff. Das bezog sich auf seine Recyclingfähigkeit. Müsste es nicht auch für die Lebensdauer, sprich die Materialermüdung gelten?
Prof. Krupp: Stahlteile gehen irgendwann einmal kaputt. Im Idealfall gelingt es, von Ermüdung betroffene Bauteile vorher aus dem Betrieb zu nehmen, dass man z. B. eine Windkraftanlage oder Brücke abbaut, bevor sie einstürzt. Wir forschen daran, dass man schon im Vorfeld den Ermüdungszustand des Stahls erkennen kann. Dass man dem Stahl gewissermaßen ein Gedächtnis einpflanzt und man auslesen kann, wieviel Schädigung bereits erreicht ist. Das ist der eine Aspekt. Ein weiter Aspekt ist die Schadenstoleranz: Jeder Stahl hat natürlich Verunreinigungen – Einschlüsse, an denen Risse entstehen. Schadenstoleranz bedeutet nun, dass wenn sich dieser Riss ausbreitet, gewährleistet wird, dass er sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter ausbreiten kann – oder sich quasi selbst repariert. Das kann so funktionieren: Wenn der Riss entsteht, kommt es an der Rissspitze zu einer Phasenumwandlung mit einer Erhöhung des spezifischen Volumens. Dies führt zu Rissschließeffekten, der Riss wird zusammengedrückt und wächst nicht weiter.
stahl.: Das hört sich nach Eingriff in die DNA der Metallurgie an. Wie genau gehen Sie da vor?
Prof. Krupp: Wir verwenden kleine Proben unserer Stahlentwicklungen, die in einen Resonanz- oder Ultraschallpulsator eingespannt und in Schwingung bei Frequenzen bis 20.000Hz versetzt werden, so dass ich in der Probe genau die Beanspruchung habe, die z. B. bei einer Windkraftanlage herrscht. So bilde ich aufgrund der hohen Prüffrequenz 20 Jahre Laufzeit in weniger als einem Tag ab.
stahl.: Das heißt, Sie simulieren im Labor die Materialeigenschaften, die z. B. für ein Windkraftrad benötigt werden, und produzieren auf dieser Basis den erforderlichen Stahl?
Prof. Krupp: Genau. Und dann kann man sehen: Wie findet die Schädigung statt? Funktioniert mein Schädigungsgedächtnis? Funktioniert die Selbstreparatur? Diese Dinge kann man dann natürlich weiterentwickeln.
stahl.: Kann man denn den Begriff „unendlich“ denn wirklich wörtlich nehmen?
Prof. Krupp: Das könnte man in diesem Falle durchaus. Die Risse, über die wir sprechen, finden im mikroskopischen Bereich statt. Aus Zugversuchen kennen wir die Mechanismen der Verfestigung: Wenn Stahl kalt umgeformt wird, dann erhöht sich die Festigkeit. Diese Mechanismen kann man auf Prozesse im Mikromaßstab zurückführen. Wenn also die Umformung lokal an einem mikrostrukturellen Defekt stattfindet, bspw.an einem Einschluss, wird an dieser Stelle der Stahl dann fester und kann dann die weitere Beanspruchung unbeschadet überstehen. Wenn man diese Art der Schadenstoleranz geschickt ausnutzt, wird die Lebensdauer ermüdungsbeanspruchter Teile deutlich gesteigert. Und wir können – das ist jetzt ein wenig in die Zukunft gedacht – die anfängliche Schädigung auch detektieren. Das funktioniert, wenn die lokale Umformung zu einer Phasenumwandlung führt, die anhand eines elektrischen oder mikromagnetischen Signals detektiert werden kann und so den Schädigungszustand widerspiegelt, z. B. dass der Stahl – sagen wir – 80 Prozent seiner Lebensdauer erreicht hat. „Unendlich“ bedeutet dann, dass man in diesem Fall eine weitere Walz- oder Öberflächenbehandlung vornimmt, die zu einer Eliminierung der Ermüdungsschädigung führt. Idealerweise bekäme der Werkstoff dann auch wieder 100 Prozent seiner ursprünglichen Lebensdauer. Wir sind deshalb der Meinung, dass Stahl aufgrund seiner unendlichen Verwertbarkeit der nachhaltigste Werkstoff überhaupt ist. Man muss allerdings gerade auch hinsichtlich von Beschichtungen und Legierungsvielfalt auf optimale Recyclingfähigkeit achten.
stahl.: Sie meinen einen reduzierteren Umgang mit Legierungen?
Prof. Krupp: Richtig. Man sollte eher schlank denken, es also möglichst bei Eisen, Kohlenstoff, Mangan und Chrom belassen und dann versuchen, über thermomechanische Behandlungsstrategien die erforderliche Differenzierung in den Qualitäten hinzubekommen. Denn durch die Wärmebehandlung habe ich einen sehr großen Spielraum, um die Werkstoffeigenschaften zu gestalten. Überspitzt hieße das, man könnte nur einen einzigen Stahl verwenden – und die Differenzierung erfolgt über die Prozesskette. Dadurch ist man dann auch viel flexibler beim Einsatz von Schrott als Rohstoff. Denn man reduziert den mühsamen Weg der Vorsortierung.
stahl.: Wenn man über Smart Steel nachdenkt, kommt einem gleich auch Künstliche Intelligenz in den Sinn? Welche Rolle spielt KI an Ihrem Institut?
Prof. Krupp: Wir haben hier in Aachen das Exzellenzcluster „Internet of Production“. Das ist ein fakultätsübergreifendes interdisziplinäres Forschungsprojekt mit weit über 100 Beteiligten. Ein ganz neues Konzept ist hier – angelehnt an den digitalen Zwilling – der „digitale Schatten“. Das ist ein Konzept, das auch einige Stahlunternehmen bereits erfolgreich umsetzen.
stahl.: Was ist damit gemeint?
Prof. Krupp: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen sehr komplexen thermomechanischen Prozess – also Walzen, Abkühlen, Wärmebehandlung. Diese Prozesse sind stark von der Chemie und Mikrostruktur des Eingangsprodukts abhängig. Bei jeder Stahlcharge, die produziert wird, weichen diese ein wenig voneinander ab. Aber zum Schluss möchte man natürlich immer ein Produkt mit gleichbleibender Qualität haben. Der digitale Schatten kann nun – z. B. beim Walzen – die Temperaturen und die Kräfte, die benötigt werden, nachverfolgen. Und das sind natürlich Abbilder der jeweils vorliegenden Mikrostruktur des Materials: quasi ein Schattenwurf der Materialeigenschaften. Wenn ich die Fülle der verfügbaren Daten aus den Umformaggregaten, Wärmebehandlungs- und Abkühleinheiten einsammele, dann ergibt sich ein sehr gutes Bild, das dann mit den Eigenschaften des Werkstoffs verknüpft werden kann. Diese Verknüpfung anhand digitaler Schatten lässt sich über maschinelles Lernen und physikalisch-informierte neuronale Netzwerke (PINN) trainieren. So können dann Prozesse in Echtzeit an die durch die KI ermittelten Werte angepasst werden, sodass unter allen Bedingungen eine gleichbleibend hohe Qualität sichergestellt ist. Man könnte also meinen, man bräuchte keine metallurgischen Vorkennnisse. Smart wird es aus meiner Sicht aber erst, wenn man die KI-Methoden nutzt, um möglichst rasch und effizient jüngste Forschungserkenntnisse in industrielle Produktionsprozesse umzusetzen. Das geht nur mit exzellent ausgebildeten Fachkräften auf allen Ebenen.
stahl.: Herr Prof. Krupp, danke für das Gespräch.