Günstiger Industriestrom versus Dekarbonisierungsdruck. Im Interview mit stahl. spricht Dr. Alexander Becker, CEO der GMH Gruppe, über den kaum noch auszuhaltenden Spagat, den Stahlproduzenten einerseits zum Green-Steel-Marktführer zu transformieren und andererseits wegen galoppierender Energiepreise die internationale Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel setzen zu müssen.
stahl.: Die GMH hat Sie vor knapp anderthalb Jahren als Geschäftsführer an Bord geholt. Wie unterscheidet sich das Arbeiten bei einem inhabergeführten Unternehmen, im Vergleich zu Ihren vorherigen Tätigkeiten bei Konzernen?
Alexander Becker: Konzerne sind immer per se sehr hierarchisch aufgebaut, das heißt, die Entscheidungsfindung dauert oftmals sehr lange. Die GMH Gruppe ist hingegen eine privat geführte, mittelständische Unternehmensgruppe mit flachen Hierarchien. Entscheidungen können hier deutlich schneller getroffen werden. Wir sind signifikant agiler und wendiger als die Konzernkonkurrenz. Und dann gibt es hier noch etwas, was Konzerne qua Größe einfach nicht bieten können, was aber einen bedeutenden Anteil am Unternehmenserfolg hat: der mittelständische Spirit.
Da verstehen Sie was genau darunter?
Ich meine damit insbesondere, dass jeder Mitarbeitende unternehmerisch tätig werden und sich mit seinen Ideen und Verbesserungsvorschlägen einbringen und diese dann auch noch mit vielen Freiheitsgraden umsetzen kann. Einige laufende und anstehende Zukunftsinvestitionen wurden zum Beispiel von unseren Mitarbeitenden angeregt und die Konzepte hierzu wurden in abteilungsübergreifenden Teams ausgearbeitet. Das nenne ich mittelständischen Spirit.
Sie haben ein eigenes Nachhaltigkeitsmanagement als Schnittstelle zur Geschäftsführung etabliert - welche Absicht verfolgen Sie damit?
Mit dieser Maßnahme unterstreichen wir, dass das Thema Nachhaltigkeit für uns als GMH Gruppe höchste Priorität hat. Warum ist das so? Ganz einfach: Wir wollen die Welt für die nächsten Generationen lebenswert erhalten, wollen attraktiv für Talente sein, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
langfristig an uns binden und auch in Zukunft ein profitables Unternehmen sein. Das wird uns nur durch ein aktives Nachhaltigkeitsmanagement gelingen.
Konkret heißt das?
In meinen ersten 18 Monaten in der GMH Gruppe haben wir uns gemeinsam ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele gesetzt. So wollen´wir bspw. unsere CO2-Emissionen bis 2030 von jetzt 800.000 t auf 400.000 t halbieren und bis 2039 sogar klimaneutral werden. Gemeinsam mit unseren Verantwortlichen im Nachhaltigkeitsmanagement werden wir alle GMH-Standorte in diese Aufgabe einbeziehen. Hierzu starten wir gerade ein entsprechendes Transformationsprojekt, bei dem wir für jedes Unternehmen Ziele auf Grundlage des jeweiligen Geschäftsmodells festlegen und alle Beteiligten dazu verpflichten, Möglichkeiten zur Verringerung der CO2-Emissionen auf der Grundlage unserer vier wichtigsten Hebel zu identifizieren.
Die da lauten?
Erstens: Stetiger Ausbau des Anteils der erneuerbaren Energien in unserem Energiemix. Zweitens: Nutzung von biogenen Kohlenstoffträgern und drittens: Erdgas ersetzen durch Elektrifizierung der Produktionsprozesse und den Einsatz von Wasserstoff, viertens: Verbesserung der Energieeffizienz. Auf diese Weise wollen wir einen klaren Fahrplan zur Reduktion der CO2-Emissionen erarbeiten und Verbindlichkeit schaffen.
Was tun Sie, um die GMH insgesamt als Unternehmen grüner zu machen?
Wir treiben zum Beispiel intensiv die Eigenstromerzeugung sowie die Beschaffung von grünem Strom via PPAs (Power Purchase Agreements) voran.
Das heißt?
Für die Eigenstromerzeugung setzen wir auf den Bau von Photovoltaikanlagen. Derzeit arbeiten wir an 20 PV-Projekten. Aber auch beim Bau und Betrieb von Windkraftanlagen wollen wir uns jetzt verstärkt engagieren. Bei den derzeitigen Genehmigungszeiten für Windkraftanlagen dürfte das Ziel aller Voraussicht nach aber noch Jahre entfernt sein? Wir hoffen, dass hier bald Besserung eintritt. Dessen ungeachtet nutzen wir bereits heute 30 % Grünstrom aus deutschen Windparks und konnten auf diese Weise unsere CO2-Emissionen um 18 % im Vergleich zu 2019 senken.
Was tun Sie noch, um bei GMH den CO2-Fußabdruck
zu verringern?
Der wichtigste Dekarbonisierungsfaktor ist wie gesagt die Tatsache, dass wir unseren Stahl zu 100 % aus Schrott erschmelzen. Auf diese Weise können wir nicht nur unseren Ofen optimal befüllen, wir sparen vor allem auch mit jeder Tonne Schrott die enorme Menge von 1,3 Tonnen CO2 im Vergleich zur herkömmlichen Hochofenroute ein.
Gilt das für sämtliche Stähle, die Sie herstellen?
Ja, vom Rohstahl, über gewalzte und geschmiedete Produkte bis hin zu einbaufertigen Komponenten kann alles, was wir produzieren, aus einer einzigen Quelle hergestellt werden: Schrott. Wichtig in diesem Zusammenhang: im Gegensatz zu vielen anderen schauen wir auch bei der Logistik sehr genau auf unseren Carbon Footprint.
Inwiefern?
Wir beziehen unseren gesamten Schrott aus der Region, und zwar größtenteils von unseren eigenen Recyclingunternehmen. Das heißt, der Schrott, den wir verarbeiten, kommt ganz überwiegend aus einem Umkreis von 100 bis 200 km, allerhöchstens 500 km. Paradebeispiel hierfür ist unsere Kooperation mit dem Volkswagen Konzern im VWWerk Osnabrück: Das dort anfallende Altmetall wird in unser gerade einmal zehn Kilometer entferntes Stahlwerk der Georgsmarienhütte transportiert, wo es zu neuem Hightech-Stahl recycelt wird. Auf kurzem Weg geht es dann zurück in die Wertschöpfungskette des Volkswagen-Konzerns. Das ist gelebte und reale Kreislaufwirtschaft.
Wie sehen Sie die Zukunft der GMH innerhalb der deutschen und europäischen Stahlbranche?
Europa geht mit dem Green Deal weltweit in Sachen Dekarbonisierung voran. Grüner Stahl ist für eine klimaneutrale Wirtschaft und ein klimaneutrales Europa unerlässlich. Als GMH Gruppe wollen wir diese Transformation proaktiv mitgestalten und vorantreiben. Wir wollen als Pionier der Green-Steel-Bewegung auch in Zukunft eine Vorreiterrolle einnehmen und unser Ziel lautet hierbei ganz klar: Wir wollen als nachhaltigstes Stahlwerk bei Green Steel der Benchmark der Branche sein.
Im Moment sieht es für Green-Steel-Pioniere wie Sie, die voll auf die Elektrifizierung der Stahlherstellung setzen, angesichts der extrem gestiegenen Energie- und insbesondere Industriestromkosten aber eher nach dem berühmten Pyrrhussieg aus.
Das ist leider die bittere Wahrheit und sollte jetzt endlich einmal in der industriepolitischen Debatte klar und unmissverständlich zur Sprache gebracht werden. Wir haben als energieintensives Unternehmen sehr hohe Energiekosten, die sich inzwischen so deutlich von denen unserer internationalen Wettbewerber, zum Beispiel in den USA, China, Indien oder der Türkei unterscheiden, dass wir auf Dauer im Wettbewerb nicht bestehen und überleben können. Wenn Berlin und Brüssel es weiter versäumen, beim Thema Energiekosten für faire Rahmenbedingungen zu sorgen, hat die energieintensive Industrie in Deutschland und auch Europa leider keine Zukunft mehr.
Wie hoch ist denn der Preisunterschied bei den Energiekosten?
Wir haben mit Preiserhöhungen zu kämpfen, die die Stahlindustrie in dieser Dimension noch nicht gesehen hat. Im Moment zahlen wir um die 130 € für eine Megawattstunde Strom, letztes Jahr lag der Preis teilweise bei 300 € und mehr, das ist das fünf Mal so viel, wie bei unseren Wettbewerbern aus China, USA oder der Türkei.
Was muss passieren?
Wir brauchen für einen überschaubaren Zeitraum einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis. Bei einem Preis von vier Cent/kWh wären wir weltweit wettbewerbsfähig.
Im Moment sieht es nicht danach aus, dass die Politik die Stellhebel auch nur annähernd in diese Richtung bewegen könnte.
Als Vorsitzender der Geschäftsführung eines Unternehmens mit fast 6.000 Mitarbeitenden macht mich das ehrlich gesagt sehr wütend, wie unsere Politik mit unserem unternehmerischen Schicksal umgeht und wie durch diesen eingeschlagenen Weg unser Wohlstand in Deutschland beeinträchtigt wird. Wenn wir weiterhin eine der Schlüsselindustrien als Wirtschaftsgrundlage behalten wollen, sollte unsere Regierung die Bedingungen schaffen, die notwendig sind, um uns auf internationalem Niveau wettbewerbsfähig zu halten.
Was passiert, wenn kein wettbewerbsfähiger Industriestrompreis kommt?
Wir können als energieintensive Industrie nicht sieben, acht Jahre diesen enormen Wettbewerbsnachteil mit diesem hohen Industriestrompreis durchhalten, bis vielleicht 2030, ich sage bewusst vielleicht, genug günstiger grüner Strom für die Industrie zur Verfügung steht. Das Kapital wartet ganz sicher nicht so lange, das ist emotionslos, das geht seinen Weg ganz einfach dorthin, wo es sich am besten vermehren und rentieren kann. Und zwar umgehend. Ergo muss jetzt industriepolitisch ganz schnell etwas passieren, sonst wird es ein böses Erwachen in Sachen Deindustrialisierung geben.
Wie sieht Ihre Marschroute bei GMH aus. Halten Sie die Produktion denn zurzeit an allen Standorten trotz hoher Kosten aufrecht?
Ja, unsere Schmieden, Gussbetriebe und Stahlwerke produzieren in gewohntem Umfang. Auch, wenn der Druck zurzeit unglaublich groß ist. Nicht nur die Energiekosten treffen uns, wir müssen auch selbst Stahl zukaufen, weil wir nicht alles selbst fertigen können. Die Preise sind enorm gestiegen. Fairerweise muss man sagen, dass sich die meisten Kunden an den Preiserhöhungen beteiligen – sie also ihrerseits an ihre Kunden weitergeben. Die Frage ist jetzt nur, wo die Inflation enden soll. Das erinnert ein bisschen an die Situation von 2007/2008.
Gerade für die Gießereien war es in den vergangenen Jahren wirtschaftlich schwierig. Sehen Sie für Ihre Gießereien als auch Schmiedebetriebe am Standort Deutschland noch eine Zukunft?
Auch wenn ich von Berufs wegen Optimist bin: Das ist schwer zu sagen. Die Personal- und Energiekosten sind hoch und die Unterstützung der Politik ist, anders als in vielen Nachbarländern, leider nur gering. Das macht es schwerer, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Und es werden einem immer mehr Steine in den Weg gelegt. Insbesondere unsere Gießereien trifft die CO2-Steuer zum Beispiel hart.
So hart, dass Sie schließen müssen?
Auch das kann uns blühen. So, wie sich die CO2-Steuer im Moment entwickelt, werden wir unter Umständen einen Standort im Harz im Jahr 2026 – also in drei Jahren – schließen müssen. Die Schließung, das sei an dieser Stelle ausdrücklich gesagt, müsste aber nicht sein. Wir könnten der CO2 Steuer begegnen, indem wir einen Elektroofen bauen. Wir sind bereit, Geld in die Hand zu nehmen und umzurüsten. Aber zusätzlich müsste der Energieversorger auch eine Stromleitung legen. Die Kosten dafür liegen bei 14 Millionen Euro. Stand heute müssten wir diese Summe selbst stemmen, eine Förderung gibt es nicht. Das ist als Familienunternehmen utopisch. Fazit: Die Politik drängt Mittelständler mit Macht zur Transformation, stellt jedoch die Infrastruktur dafür nicht bereit. Fairerweise muss man sagen, dass uns die Landesregierung in Niedersachsen stark unterstützt. Aber auch ihr sind größtenteils die Hände durch Vorgaben aus Berlin und Brüssel gebunden. Das ist sehr schade. Aber wir kämpfen weiter für den Erhalt unseres Standorts!
Läuft die Stahlindustrie in Deutschland in den kommenden Jahren Gefahr, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen wird wie der Bergbau?
Ich mache mir im Moment schon große Sorgen, will sagen, ganz auszuschließen ist das nicht. Denn zurzeit spricht mehr gegen Deutschland als Produktionsstandort als dafür. Hier liegt jedoch als GMH Gruppe unser Schwerpunkt, wir haben nur einen Produktionsstandort in den USA und zwei Standorte in Österreich. Für uns als deutsches Unternehmen ist es hart, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Wir haben Kunden, die bereits beschlossen haben, aus Deutschland wegzugehen. Eine erste Deindustrialisierung hat also bereits begonnen. Damit würde sich jedoch auch der Wohlstand von Deutschland in andere Länder verschieben. Das kann wohl keiner ernsthaft in Berlin wollen.
Was bereitet Ihnen die größte Sorge?
Meine größte Sorge ist, dass die Strominfrastruktur ohne Atom- und Kohlestrom künftig instabil werden könnte. Ich bin ein Freund der Erneuerbaren, mehr noch als vor ein paar Jahren. Wenn wir es aber nicht schaffen, die Erneuerbaren deutlich auszubauen, rennen wir sehenden Auges in eine riesige Stromlücke. Ich habe oft in Ländern gelebt, in denen Stromausfälle an der Tagesordnung sind. So ein Szenario wäre für uns als Unternehmen fatal.
Herr Becker, vielen Dank für das Gespräch!