Christian Grosspointner übernimmt die Führung der AICHELIN Group. Im Gespräch mit der PROZESSWÄRME gewährt er Einblicke in seine neue Funktion, erläutert die Schwerpunkte in der strategischen Ausrichtung des Unternehmens und beschreibt, wie die Energie- und Rohstoffkrise die Branche beeinflusst.
Was waren Ihre wichtigsten Aufgaben in den ersten Wochen nach Ihrem Amtsantritt?
Christian Grosspointner: Zuhören und lernen. Da es eineangemessene Übergangszeit mit meinem Vorgänger Dr. Peter Schobesberger gab, war es mir wichtig, so viele Informationen wie möglich abzusaugen und einen guten Gesamtüberblick über die gesamte AICHELIN Group zu erhalten. Wir haben auch die Gelegenheit genutzt und gemeinsam alle zehn Standorte unserer Unternehmensgruppe besucht – außer unsere Standorte in China aufgrund der Corona-Maßnahmen. So konnte ich alle Führungskräfte und viele Mitarbeiter persönlich kennenlernen und bekam darüber hinaus die historische Entwicklung und die standortspezifischen Spezialitäten von meinem Vorgänger während der Reisezeit vermittelt.
Welche strategischen Ziele werden Sie als neuer CEO setzen?
Einer der wichtigsten Punkte ist, die Organisation für die sich immer schneller ändernden Rahmenbedingungen fit zu machen. Die aktuellen Geschehnisse zeigen uns, dass man nichts mehr ausschließen kann und man sich auf alle Eventualitäten so gut wie möglich vorbereiten muss. Krisen werden zukünftig zunehmen; erfolgreicher wird derjenige sein, dem es gelingt, diese besser zu bewältigen als andere. Resilienz lautet das neue Schlagwort. Die AICHELIN Group ist strategisch mit ihren Footprints in Europa, Asien und den USA optimal aufgestellt. Nun gilt es, die Zusammenarbeit intern noch mehr zu intensivieren und unseren Kunden die besten Lösungen aus allen Welten anzubieten. Hierbei spielt auch der zunehmende Ausbau des Service- und After-Sales-Geschäfts eine große Rolle. Ein weiteres, für unsere Gruppe sehr wichtiges Projekt im Neuanlagengeschäft ist der Bau des neuen Fertigungsstandorts in Celje/Slowenien. Dort fertigen wir ab Ende 2022 alle Anlagen der Marken AICHELIN, BOSIO, SAFED und AFC-Holcroft für den europäischen Markt in einem gemeinsamen „Assembly Center Europe“ mit hoher Effizienz. Dies ist ein großer Schritt, um unser Europageschäft zukunftsfit zu machen und unsere Konkurrenzfähigkeit weiter zu stärken.
Welches sind in Zukunft die wichtigsten Wachstumsmärkte für die AICHELIN Group?
Betrachtet man die aktuellen Entwicklungen und Prognosen, wird der asiatische Raum auch weiterhin der stärksteWachstumstreiber bleiben. Die derzeit sehr positive Entwicklung unserer Standorte in China und Indien unterstreicht diesen Trend.
Was sind derzeit die größten Herausforderungen für Unternehmen der Thermoprozesstechnik?
Die Energiekrise – speziell die Versorgung mit Erdgas – sowie die hohen Energiekosten, der Fachkräftemangel, die Preissteigerungen in nahezu allen Bereichen und die Anforderungen hinsichtlich der Dekarbonisierung sind für mich die bedeutsamsten Aufgaben, die vor uns liegen.
Die Dekarbonisierung ist das zentrale Thema der energieintensiven Industrie. Wie lassen sich die CO2-Emissionen in der Wärmebehandlung reduzieren und bis 2050 auf netto null senken?
Durch Umstellung auf Elektro- bzw. Wasserstoffbeheizung ist dies möglich. Hierbei spielt jedoch der rasche Ausbau zur Erzeugung erneuerbarer Energie eine wesentliche Rolle. Aktuell gibt es noch zu wenig grünen Strom, um die Anlagen damit zu beheizen bzw. daraus Wasserstoff zu erzeugen. Dazu kommt, dass für eine großflächige Stromversorgung der Wärmebehandlungsanlagen aktuell schlichtweg die Infrastruktur fehlt. Wasserstoff hätte den großen Vorteil, dass er speicherbar ist und die bestehende Gasinfrastruktur verwendet werden könnte. Fazit: Wasserstoff aus Wind- und Solarstrom erzeugen und über das bestehende Gasnetz speichern und verteilen.
Wird die Dekarbonisierung zu einem Investitionsschub in der Industrie führen?
Ich denke, sobald die Rahmenbedingungen geschaffen und Alternativen zu Gas ausreichend und zu vernünftigen Kosten vorhanden sind, wird es auch zu einem vermehrten Umbau der bestehenden Anlagen bzw. einem Ersatz von Altanlagen kommen. Technisch wäre das jetzt schon möglich, leider lässt sich ein Investment wirtschaftlich noch nicht wirklich darstellen und die erneuerbaren Energiequellen fehlen.
Wie positioniert sich die AICHELIN Group in diesem Markt?
Wir haben bereits umfangreich in die Entwicklung von hocheffizienten Elektrobeheizungen bzw. in die Verwendung von Wasserstoff als Heizmedium investiert, und die Technologie steht zur Nutzung bereit. Mit unserem „Green Check“ bieten wir einen speziellen Service an, mit dem bestehende Anlagen auf Potenziale zur Energieeinsparung sowie Möglichkeiten zur Umrüstung auf Elektrobeheizung untersucht und anschließend entsprechende Umbaumaßnahmen angeboten und umgesetzt werden.
Welche Auswirkungen haben die exponentiell gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise auf die Branche?
Wie in allen anderen Industrien beeinflussen die Preiserhöhungen den Endpreis der Produkte. Hersteller sind mittlerweile gezwungen, die gestiegenen Kosten an die Endkunden weiterzugeben, um überleben zu können. Speziell für Europa wirkt sich das in weiterer Folge sehr negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit aus.
Welche Rolle werden grüne Gase wie Wasserstoff zukünftig für die Beheizung von Industrieöfen spielen?
Wasserstoff wird mittel- und langfristig eine immer höhere Bedeutung einnehmen, jedoch muss vorher die effiziente und ausreichende Erzeugung von grünem Wasserstoff sichergestellt werden. Aktuell wird ein Großteil des Wasserstoffs aus Erdgas gewonnen, und für eine Herstellung durch Elektroenergie fehlt ebenfalls noch die notwendige Menge an nachhaltig erzeugtem Strom.
Die Induktion und elektrische Beheizung gewinnen an Bedeutung. Wie groß wird zukünftig der Anteil elektrisch beheizter Anlagen sein?
Sobald die notwendige Energie vorhanden ist, kann ich mir vorstellen, dass ein guter Teil der Anlagen – sofern technisch möglich – elektrisch beheizt wird. Aber auch hier: Der Strom muss zuerst zu vernünftigen Kosten verfügbar und ebenso muss die Netzinfrastruktur darauf ausgelegt sein, da wir in diesem Zusammenhang von sehr hohen Anschlussleistungen sprechen, welche bei vielen Kunden aktuell noch nicht bereitgestellt werden können.
Wird es Veränderungen im Produktportfolio der AICHELIN Group geben?
Wir erwarten speziell in Europa einen Anstieg im Serviceund Umbaugeschäft, worauf wir auch einen großen Fokus legen. Deshalb haben wir in den letzten Monaten unser gesamtes Servicegeschäft in Europa in einer gemeinsamen Organisation, der „AICHELIN Service Europe“, gebündelt, um hier noch schlagkräftiger zu werden. Auch mit der Transformation unserer Tochter NOXMAT vom puren Brennerbauer hin zu einem Spezialisten für Beheizungssysteme (unter anderem elektrische), rechnen wir ebenfalls mit zusätzlichem Geschäft außerhalb der reinen Wärmebehandlung.
Welche Bedeutung hat die Digitalisierung für die Gruppe und wie manifestiert sich dies in der Strategie des Unternehmens?
Digitalisierung hat in der AICHELIN Group einen sehr hohen Stellenwert und ist auch in der Strategie fest verankert. Mit unserem Prozessleitsystem FOCOS 4.0 und unserem Instandhaltungstool #jakob haben wir zwei Produkte entwickelt, welche eine Anbindung unserer Anlagen an die digitale Welt ermöglichen. Damit bieten wir unseren Kunden moderne Werkzeuge, um die gesammelten Anlagendaten optimal zu nutzen und daraus einen klaren Mehrwert im Bereich Anlagenverfügbarkeit zu generieren.
Was kann Digitalisierung leisten und wo sind die Grenzen der Automatisierung von Wärmebehandlungsprozessen?
Durch die fortschreitende Digitalisierung wird eine Vielzahl von Daten automatisch gesammelt und in einem nächsten Schritt verarbeitet und ausgewertet. Dies gibt dem Anlagenbediener einen sehr guten Überblick über die laufenden Anlagenprozesse und lässt Rückschlüsse auf die Stabilität zu. Zusätzlich kann sich die Anlage auf Basis der Auswertungen selbst nachjustieren und Daten an vor- und nachgelagerte Anlagenteile weitergeben. Auch für den Bereich der vorbeugenden Wartung können diese Analysen herangezogen werden. Die damit erzielte Reduktion von ungeplanten Stillständen erhöht die Anlagenverfügbarkeit deutlich. Hier wird bereits mit KI gearbeitet, um die erwartete Lebensdauer von Bauteilen unter den aktuellen Einsatzbedingungen zu berechnen. Geht es jedoch um die erstmaligen Anlageneinstellungen von komplexen Komponenten bzw. sollen Wärmebehandlungsprozesse bis an die Grenzen optimiert werden, ist das jahrelange Wissen und Know-how, sprich die Erfahrung der Wärmebehandlungsspezialisten, auch weiterhin unerlässlich. Oftmals helfen hier nur unzählige Versuche, bis die optimalen Einstellungen und Prozesse gefunden sind.
Es gibt einen Trend zur De-Globalisierung. Welche Auswirkungen kann das auf exportstarke Unternehmen haben?
Die AICHELIN Group hat seit jeher eine dezentrale Organisationsstruktur mit starken lokalen Setups. Das Motto „local for local“ wird bei uns gelebt und somit sind wir auch unabhängiger von punktuellen Störungen in den Lieferketten bzw. lokalen Marktschwankungen. „Think globally, act locally“ hat mit Sicherheit einen großen Einfluss auf die positive internationale Entwicklung als starke Gruppe. Müssten wir die ganze Welt aus nur einer Region bedienen, wäre das wesentlich schwieriger, und das würde unseren Handlungsspielraum stark einschränken.
Wie beurteilen Sie den Standort Europa im Vergleich mit anderen Wirtschaftsräumen?
Europa wird immer ein wichtiger Markt bleiben, aber es ist definitiv kein Wachstumsmarkt mehr und ich denke, wir haben den Zenit erreicht. Die Wettbewerbsfähigkeit ging zurück, und andere Regionen haben in vielen Bereichen stark aufgeholt bzw. uns bereits überholt. Der Unterschied ist, dass die europäischen Länder ein hohes Level an Wohlstand verteidigen müssen, während andere Regionen hungrig sind, ein gewisses Maß dessen zu erreichen. Europa muss zukünftig den Gürtel definitiv enger schnallen und wir müssen uns wieder mehr anstrengen, um zumindest im Bereich Technologie und Entwicklung nicht den Anschluss zu verlieren.
Herr Grosspointner, vielen Dank für das Gespräch.