gwf: Das klingt, als würden Sie für mehr Technologieoffenheit in der Energiefrage plädieren.
Prof. Schlögl: Genau. Wir brauchen eine gesunde Mischung aus allen verfügbaren Lösungen. Im Augenblick fokussieren wir uns oft nur auf einen Teil. Das wird nicht funktionieren. Zudem ist es extrem gefährlich, weil wir der Welt zeigen, dass Deutschland die Energiewende mit dem Scheckbuch macht:
Scheidet ein Energieträger aus, fördern wir einen anderen. Das finanzielle Volumen der Energieträger im deutschen Energiesystem besitzt eine Größenordnung von jährlich rund 260 Mrd. €. Das kann nicht alles vom Staat finanziert werden; er kann nur die Randbedingungen für das Energiesystem setzen. Andernfalls machen wir den gleichen Fehler wie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Ich bin ein großer Freund des Gesetzes, da es den Ausbau der Erneuerbaren enorm gefördert hat. Das haben die Deutschen gewissermaßen der Welt geschenkt. Aber leider wurde der Ausstieg aus der staatlichen Förderung bis heute nicht richtig durchgeführt.
gwf: Mit der Leopoldina haben Sie sechs Leitideen für die Transformation des Energiesystems herausgearbeitet.
Prof. Schlögl: Das stimmt. Die erste ist der schon erwähnte Umstand, dass Moleküle und Elektronen parallel gebraucht werden. Die zweite bezieht sich auf die ebenfalls angesprochen Gaskraftwerke. Sie sind für die Energiewende wirklich wichtig, da sie uns als größter Volkswirtschaft Europas erlauben, unseren Strombedarf aus eigener Kraft zu decken. Der für mich zentrale Punkt ist aber, den Kohlenstoffkreislauf zu schließen.
gwf: Was meinen Sie damit?
Prof. Schlögl: Dazu gehören mehrere Aspekte. Zunächst müssen wir anerkennen, dass es auch in Zukunft kohlenstoffhaltige Energieträger geben wird – denken Sie an die chemische Industrie, die Zementindustrie, die Metallindustrie und so weiter. Danach müssen wir uns fragen, wie wir den Kreis schließen. Kohlenstoffhaltige Energieträger werden verbrannt und erzeugen so CO2. Dieses CO2 muss wieder eingesammelt werden. Dafür gibt es zwei Methoden, die aktuell nicht gut beforscht werden. Die erste ist, das Gas an den Fabrikschloten abzufangen. An der Erforschung dieser Methode hindert uns die ideologische Einschätzung, wir bräuchten sie nicht, weil wir in Zukunft ohnehin keine fossilen Energien und damit keine Fabrikschlote mehr hätten. Diese Schlussfolgerung ist leider falsch.
gwf: Und die zweite Methode?
Prof. Schlögl: Besteht darin, das CO2 aus der Luft zu isolieren. Auch diese Option ist im Augenblick völlig unterbelichtet. Alle sinnvollen Vorhersagen gehen davon aus, dass zwischen 15 und 30 % des Weltenergiesystems weiterhin mit Kohlenstoff betrieben werden und man das dabei erzeugte CO2 – 1 bis 5 Gt pro Jahr – wieder einsammeln muss. Das ist ein gigantischer Markt; mindestens so groß wie die heutige Ölindustrie. Trotzdem passiert auf dem Gebiet nahezu nichts. Es fehlt das Bewusstsein für dieses Thema, auch regulatorisch. Es ist zum Beispiel völlig unklar, wer das Einsammeln von CO2 bezahlen soll. Die Antwort muss sein, dass sich das Vorzeichen der CO2-Bepreisung umkehrt. So wird CO2 ein Wertstoff, womit das Einsammeln wirtschaftlichen Gewinn bringt, ähnlich wie beim Altschrott.
gwf: Bräuchten wir ein TransHyDE für den Kohlenstoffkreislauf?
Prof. Schlögl: Ich denke schon. Aber vorher wäre es wichtig, das nötige Bewusstsein zu schaffen. Derzeit fällt das Thema in der Klimaforschung unter den Tisch. Viele Kollegen gehen völlig selbstverständlich davon aus, dass es in 30 Jahren negative Emissionen im Gigatonnenbereich geben wird. Das sehe ich sehr kritisch, da wir dafür meines Erachtens schon deutlich weiter sein müssten.
gwf: Halten Sie Carbon Capture Storage (CCS) für einen gangbaren Weg, um das eingefangene CO2 einzuspeichern?
Prof. Schlögl: Nein. CCS sollte aus dem Lösungsraum entfernt werden. Das Konzept basiert auf einem alten Fehler: Vor 100 Jahren hat man gedacht, die Atmosphäre wäre beliebig groß und würde das ausgestoßene CO2 verkraften. Heute denkt man, die Planetenschale wäre beliebig groß und würde das eingespeicherte CO2 verkraften. Das kann aber noch niemand wissen. In 100 Jahren kennt man womöglich die Konsequenzen der Einspeicherung, aber dann ist es womöglich zu spät. Jeder Aspekt einer neuen Technologie muss kontrollierbar sein. Das wichtigste Argument gegen die Kernenergie war ja das unkontrollierbare Risiko der Endlager. Mit der Remineralisierung beim CCS sollten wir nicht denselben Fehler machen.
gwf: Wie sollen wir also mit dem CO2 umgehen?
Prof. Schlögl: Das CO2 aus der Atmosphäre muss in irgendeiner Form mindestens wieder in Kohlenstoff überführt werden, um den Kreislauf zu schließen. Dazu muss mindestens die Energiemenge, die bei der Entstehung des CO2 gewonnen wurde, reinvestiert werden. Bei 5 Gt CO2 kann man leicht ausrechnen, dass dafür hunderte von TWh Energie notwendig sind. Und dieser gigantische Energiebedarf kommt nochmal auf den ohnehin hohen Bedarf hinzu. Wie effizient die Kohlenstoffrückgewinnung dann letztlich ist, hängt von der verwendeten Technologie ab.
gwf: Überfordert dieses Konzept der Kohlenstoffrückgewinnung, oder der Schließung des Kohlenstoffkreislaufes, nicht viele?
Prof. Schlögl: Das ist falsch gedacht. Ich plädiere für eine Einsicht: Energie ist ein System. Und ein System besteht aus geschlossenen Kreisläufen, die sich gegenseitig beeinflussen. Es hat keinen Sinn zu sagen: „Das ist zu kompliziert, deswegen lassen wir die Hälfte weg.“ Auch die Energiewende gesetzlich in Sektoren zu unterteilen ist falsch. Auf diese Weise wird das Verständnis, dass alles mit allem zusammenhängt, automatisch und gesetzlich auseinandergetrieben. Aus diesem falschen Verständnis heraus denken Menschen: „Wir machen eine Energiewende, wir elektrifizieren alles, aber wo der Strom herkommt, interessiert uns nicht mehr; das ist ein anderer Sektor.“
gwf: Wie würde für Sie ein ideales Energiesystem in 25 Jahren aussehen?
Prof. Schlögl: Im günstigsten Fall würde es genauso aussehen wie jetzt. Das wäre das Wesentliche: dass es erhalten bleibt. Wir müssen uns von dem Gedanken befreien, dass wir in 25 Jahren kein CO2 mehr emittieren werden. Das ist eine rein politische Vorstellung. Wir werden dann hoffentlich einige Energieträger nicht mehr nutzen, etwa Kohle. Und bestenfalls würde man Erdöl dann nur noch der chemischen Industrie zur Verfügung stellen.
gwf: Also kein Erdöl mehr für den Mobilitätssektor?
Prof. Schlögl: Nein, die Mobilität muss man anders organisieren. Dafür braucht es unter anderem den Kohlenstoffkreislauf. Ein Teil der Mobilität wird batterieelektrisch sein, weil elektrisches Fahren eine sinnvolle Methode ist. Darüber hinaus bietet es sich an, im Schwerlastverkehr einen stofflichen Energieträger hinzuzunehmen. Das ist flexibel, und man kombiniert die hohe Energiedichte eines stofflichen Energiespeichers mit der hohen Effizienz eines elektrischen Antriebes. Viele professionelle Schwermaschinen wie Schiffe oder Großmaschinen werden bereits diesel-elektrisch konstruiert. So wird es sich meines Erachtens auch weiterhin entwickeln, daher ist auch hier ein geschlossener Kohlenstoffkreislauf unabdingbar. Außerdem muss der Staat vorsichtig sein, bis zu welchem Grad er vergleichbare Technologien, die sich in dieses Konzept integrieren lassen, subventioniert. Das bringt mehrere parallele Infrastrukturen hervor.
gwf: Mit anderen Worten: Der Staat sollte sich aus dem Energiesektor heraushalten.
Prof. Schlögl: Weitestgehend, ja. Die Entwicklung des Energiesystems müsste – wie in der Vergangenheit – ein Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage sein. Von staatlicher Seite dürfte es in 25 Jahren nur noch die Auflage geben, dass das gesamte Energiesystem nachhaltig ist. Das ließe sich zum Beispiel durch eine wohlfunktionierende Aufsichtsbehörde sicherstellen. Eine CO2-Bepreisung wäre dann etwa eine zentrale staatliche Aufgabe. Aber er sollte niemals durch fiskalische Eingriffe – denken Sie an die steuerlichen Vergünstigungen für Kerosin oder Diesel – technologische Entscheidungen treffen, deren Folgen er nicht absehen kann. Das ist auch nicht erforderlich. Prognosen, die der Staat über die Zukunft anstellt, sind, wie die meisten weitreichenden Prognosen, in der Regel falsch. Für den Staat kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, dass er eine Entscheidung, die einmal gesetzlich fixiert ist, schwerlich an veränderte Bedingungen anpassen kann. Genau das ist aber der zentrale Punkt: in jeder Situation die bestmögliche Lösung finden. Auch 2050 wird die Energiewende nicht abgeschlossen sein, sie ist ein permanenter Prozess, den es so lange geben wird, wie Menschen Tätigkeiten ausüben.
gwf: Wie werden sich die Energiekosten entwickeln?
Prof. Schlögl: Die Energiekosten werden sicherlich höher sein als heute, womöglich sogar doppelt so hoch. Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen Kosten und Preisen. Die Preise werden sich wahrscheinlich nicht verdoppeln, aber natürlich erzeugt es einen Mehraufwand, wenn Energie, wie es beim Wasserstoff der Fall ist, vor der Nutzung mehrfach umgewandelt werden muss.
gwf: Sie sagten, Deutschland habe der Welt mit dem EEG etwas geschenkt. Könnte das auch mit unserer Energiewende der Fall sein?
Prof. Schlögl: Ich glaube, das ist zumindest der Wunsch. Es ist jedem klar, dass die zwei Prozent, die Deutschland zu den globalen Emissionen beiträgt, nicht entscheidend sind. Es geht tatsächlich eher darum, das gute Beispiel zu geben. Und das gute Beispiel heißt: Man kann eine Energiewende machen, die kompromisslos nachhaltig ist und trotzdem nicht ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verliert. Das ist die – nicht unmögliche – Aufgabe. Wir dürfen nur nicht den Eindruck erwecken, dass man die Energiewende mit dem Scheckbuch machen muss. Dann ist sie ja für weniger wohlhabendere Länder kein Beispiel mehr. Diese denken sich dann zu Recht: „Das können wir uns nicht leisten.“