Chinas Wirtschaft zeigte zuletzt ungewohnte Schwächen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt 2012 um „nur“ 8,2 Prozent wachsen wird. Zwar können die europäischen Staaten von solch einer Zahl derzeit nur träumen. Auch andere aufstrebende Schwellenländer wie Indien und Brasilien schneiden mit geschätzten 6,9 bzw. 3,0 Prozent Wachstum 2012 deutlich schlechter ab. Doch verglichen mit Chinas 10,4 Prozent Wachstum im Jahr 2010 und immerhin noch 9,2 Prozent im Vorjahr klingen knapp über 8 Prozent fast schon nach Krise. Selbst im Jahr 2009, als die globale Wirtschafts- und Finanzkrise ihren Tiefpunkt erreichte, hatte das chinesische Wachstum noch 8,7 Prozent betragen.
Die Produktivität ist in China im vergangenen Jahrzehnt so stark gestiegen wie in keiner anderen Weltregion (Quelle: Weltbank)
In den letzten drei Jahrzehnten ist die chinesische Wirtschaft um durchschnittlich 10 Prozent jährlich gewachsen, 500 Millionen Menschen sind aus der Armut geführt worden. China ist zum weltgrößten Produzenten und Exporteur geworden und hat 2010 Japan nach mehr als 40 Jahren als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst. Doch es gibt nicht wenige Experten, die in den vergleichsweise trüben Prognosen für dieses Jahr weit mehr sehen als nur eine vorübergehende Wachstumsdelle.
Die Weltbank schreibt in ihrem unter anderem in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Finanzministerium verfassten Bericht „China 2030“, das Land befinde sich an einem Wendepunkt und brauche eine neue Entwicklungsstrategie. Das gegenwärtige Wachstumsmodell sei nicht nachhaltig, sagte Weltbank-Präsident Robert Zoellick bei der Vorstellung des Berichts im Februar 2012 in Peking.
Einer der Gründe für die gegenwärtige Flaute ist jedoch nicht in China, sondern in der Krise der westlichen Industrieländer zu suchen. Wie ganz Asien bekommt auch China derzeit die schwächelnde Nachfrage aus den EU-Ländern und den USA zu spüren, Chinas mit Abstand wichtigsten Handelspartnern, die knapp 40 Prozent der chinesischen Exporte auf sich vereinigen.
Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass chinesische Exporte in den letzten Jahren auch deutlich teurer geworden sind. Wie der Economist („The end of cheap China“) im März 2012 berichtete, sind die Arbeiterlöhne zwischen 2002 und 2009 in Guangdong und Shanghai, zwei der wichtigsten Wirtschaftsregionen, jährlich um 12 bzw. 14 Prozent gestiegen. Die Zeiten, in denen westliche Unternehmen ihre Produktionsstandorte allein aufgrund der niedrigen Arbeitskosten nach Fernost verlagerten, scheinen somit vorbei. Wie die American Chamber of Commerce jüngst in einer Umfrage herausfand, sehen 91 Prozent der befragten US-Unternehmen die steigenden Lohnkosten als derzeit größte Herausforderung. Die Weltbank hält daher eine entschiedene Abkehr vom Staatskapitalismus, tiefgreifende marktwirtschaftliche Reformen und das Zulassen von mehr Wettbewerb längerfristig für unausweichlich, wolle China ein deutliches Abflachen der Wachstumskurve in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vermeiden.
Chinas staatlich gelenkte Unternehmen haben zuletzt beständig die Löhne im produzierenden Gewerbe erhöht (Quelle: Weltbank)
Nun sind größere Wirtschaftsreformen in China erst einmal nicht zu erwarten. Ende 2012 steht der turnusmäßige Wechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei an, danach folgt erfahrungsgemäß eine Phase der Machtkonsolidierung, bei der man Konflikte mit Profiteuren des gegenwärtigen Wirtschaftssystems nicht gebrauchen kann. Dennoch sieht der IWF in seinem World Economic Outlook vom April 2012 die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Produkte keineswegs in Gefahr, da mit den Löhnen auch die Produktivität deutlich gestiegen sei. Zudem hätten die höheren Gehälter die Kaufkraft im Inland gestärkt, so dass ein höherer Binnenkonsum den Rückgang der Exporte auffange.
Tatsächlich ist die Reduzierung der Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft zugunsten einer Stärkung der Binnennachfrage politisch gewollt. Bereits der Einbruch der Exporte zu Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 hat die chinesische Regierung gelehrt, dass staatliche Investitionen und Exporte allein eine unsichere Wachstumsbasis bilden. Stattdessen will man nun das gewaltige heimische Marktpotential erschließen und den Binnenkonsum zum Wachstumstreiber Nummer Eins machen. Der 2011 beschlossene Fünfjahresplan sieht daher erhebliche jährliche Lohnsteigerungen vor, gleichzeitig soll die Kluft zwischen armer Land- und reicher Stadtbevölkerung verringert werden. Die Mittelschicht soll so bis 2020 40 Prozent der Bevölkerung umfassen. Dafür nimmt man bereitwillig ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum von jährlich 5-7 Prozent in Kauf.
Doch auch so wird von Experten bereits für 2013 eine Erholung des Wachstums und ein Anstieg auf 8,6 Prozent prognostiziert. Den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas würde indes auch ein deutlich langsameres Wachstum nicht gefährden. Gemäß der Weltbank-Studie würden künftig 6,6 Prozent Wachstum im Jahr ausreichen, damit China noch vor 2030 die USA an der Spitze der Weltwirtschaft ablöst.
Florian Wassenberg, M.A.